Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
haben als ich. Die ganze Stadt ist Timons Freund. Und du kommst ausgerechnet zu mir.«
    Flavius zeigt dem Dicken die Liste, die ihm Timon diktiert hat. »Zuerst war ich bei diesem, dann bei diesem.«
    »Ich bin also der dritte?«
    »Ja.«
    »Aha. Der dritte. Das tut weh. Das tut weh. Und ich dachte, ich stehe seinem Herzen am nächsten.« Die Stimme des Dicken vibriert ein wenig. »Das enttäuscht mich, Flavius. Wärst du zuerst zu mir gekommen, ja dann! Wie gern hätte ich Timon geholfen! Aber nun, da ich mit eigenen Augen sehe, daß ich nur drittrangig für ihn bin … nein.«
    Flavius tritt vor seinen Herrn. »Ich komme mit leeren Händen.« Sprach’s, atmet schwer wie nach einem Ringkampf und verharrt eine Weile in Schweigen. Dann folgt die Wahrheit: »Du hast keinen Freund unter denen, Timon. Und du hattest nie einen.«
    Timon ist ein kluger Mann. Er braucht nicht lange, um eine Situation zu erfassen. Die erste Wahrheit hat eine zweite im Gefolge: Man kann nicht in Liebe investieren. Timon hat alles gegeben und bekommt nichts dafür. Seine Welt bricht zusammen. Das sind zehn Sekunden stilles Gedröhn.
    Dann sagt er zu Flavius: »Noch ein großes Fest gebe ich, es wird mein größtes Fest sein.«
    »Aber die Köche mußten entlassen werden«, sagt Flavius.
    »Ich werde kochen.«
    »Aber die Diener wurden bereits ausbezahlt.«
    »Ich werde bedienen!«
    Alle kommen.
    Da kann man hören: »Hat der noch etwas?«
    »Dann schnell, bevor es weg ist.«
    »Oder denkst du, er hat uns nur auf die Probe stellen wollen?«
    »Au! Wenn, dann habe ich mich ungünstig benommen.«
    »Er habe, weiß ich aus sicherer Quelle, alles nur inszeniert. Um zu testen, wer ein wirklicher Freund ist und wer nicht.«
    »Ich werde sagen, ich wollte meinerseits testen. Ob das eine gute Idee ist?«
    Dann treten sie vor Timon hin, und einer beteuert: »Du weißt doch, Timon, Freund, was du für mich bist! Genau im entscheidenden Augenblick habe ich meine Kopfschmerzen bekommen! Kaum krieg ich meine Gedanken wieder in die richtige Reihenfolge, dreht sich dein Flavius um und geht davon! Timon, Freund! Wieviel? Wieviel brauchst du?«
    Oder: »Das ist wahr, Timon! Du solltest dir einen neuen Verwalter zulegen! Was hat Flavius dir gemeldet? Ich sei nicht dagewesen? Ich war da! Ich rufe zum Fenster hinaus, und der hört mich nicht oder will mich nicht hören.«
    Oder: »Was hat Flavius über mich gemeldet? Daß ich beleidigt gewesen sei, weil du nicht zuerst zu mir gekommen bist? Wahr ist: Ich sagte, Timon hätte doch viel früher schon kommen sollen!«
    Timon antwortet nicht. Warum antwortet er nicht, denken die Freunde. Ist er böse auf uns? Oder ist er nicht böse auf uns? Und sie denken: Er ist nicht böse auf uns. Er war ja bisher auch noch nie böse auf uns. Sie setzen sich auf ihre Plätze. Besteck in der Faust. Erwartungsvoll.
    Timon deckt auf. Aber in den Schüsseln dampft nicht leckere Suppe, da schwappt schmutziges Wasser. Und unter den Silberstürzen schmort nicht buntes Gemüse, Steine liegen da. Und statt Schweinebraten gibt’s Hundefleisch. Aber lebendiges Hundefleisch mit allem dran – Fell, Krallen, Zähnen und Gebell. Und das Fell ist räudig, und die Krallen stinken nach dem Dreck, in dem sie gewühlt haben, und die Zähne sind gefletscht und gierig. Es geht drunter und drüber, die Gäste fallen, rennen, stürzen zu den Ausgängen. Werden mit Steinen beworfen und mit Spülwasser angeschüttet. Timon hat viel zu tun. Flavius hilft ihm. Flavius lacht, und es ist ihm eine lange herbeigesehnte Freude. Timon lacht nicht.
    Timon wird nie mehr lachen.
    Timon verflucht die Stadt. Und er verflucht ihre Bürger. Verhungern, verdursten, verfaulen, ersticken, ersaufen, verbrennen, erfrieren, verbluten, verbrühen, verdorren sollen sie! Die Fäuste schüttelt er gegen die Stadt. »Weiber, betrügt eure Männer! Kinder, wendet euch gegen eure Eltern. Sklaven, erhebt euch! Ihr Wahnsinnigen, ergreift die Macht! Verrecken sollt ihr! Alle!«
    Er verläßt seinen Palast. Sperrt nicht einmal hinter sich ab. Sollen sie doch holen, was noch da ist! Sollen sie doch das Fresko von der Decke schlecken! Wohl bekomm’s! Dem Timon hat diese Pracht ohnehin nie etwas bedeutet. Nichts nimmt er mit. Kein zweites Paar Socken, keine frische Unterhose. Nichts. Nichts zum Kauen, nichts zum Schlucken.
    Er taumelt durch die Vorstadt und hinaus in den Wald. Dort hockt er sich hin und schimpft. Er haßt die Menschen, und nun weiß er, er hat sie immer gehaßt. Des

Weitere Kostenlose Bücher