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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Stunden, der Wald wiederholt sich. Außerdem haben die Mädchen – Pardon: Bruder und Schwester – Hunger. Da haben sie die Taschen voll Geld, aber an etwas zu essen haben sie nicht gedacht! Sie reden jetzt auch nicht mehr so viel miteinander.
    Und als der Abend hereinbricht, wird das Licht unheimlich, und die Geräusche klingen, als wären sie hämische Kommentare, und wenn ein Baum knarrt, zucken die beiden zusammen.
    »Rosalinde«, sagt Celia.
    »Ganymed heiße ich.«
    »Entschuldigung.«
    »Aliena, Schwesterchen«, sagt Rosalinde, »geh du dicht hinter mir!« Und sie sagt es mit tiefer Stimme. »Für einen wie mich bricht jetzt die gute Zeit an.«
    »Was meinst du damit, Ganymed?«
    »Wir Männer mögen das Abenteuer.« Und Rosalinde fühlt tatsächlich etwas Männliches in sich. Zum Beispiel die Hände. Eine kleine Bewegung, und schon ballen sie sich zu Fäusten. Aber noch nie ist beobachtet worden, daß Fäuste, nur weil sie geballt waren, einen knurrenden Magen gefüllt hätten.
    Dann kommt die Nacht. Meine Güte, ist die einsam hier! Und dann kommt der nächste Tag und dann der übernächste.
    »Ich sterbe, Ganymed«, haucht Celia und sinkt auf das Moos nieder.
    Der Hunger hat alle Angst genommen, außer die vor dem Hunger.
    »Ich will sehen, ob ich etwas Eßbares auftreiben kann«, versucht Rosalinde – Ganymed – mit der tiefsten Stimme, die ihr hungriger Hals zustande bringt, sich Mut zu machen. »Leg dich, Schwester, hier hin, ich komm bald zurück!«
    Rosalinde macht sich allein auf den Weg und erreicht eine Lichtung. Und da wartet bereits Rettung in Form einer Schafherde und eines Schäfers. Der lädt die beiden in sein Haus ein und deckt auf, was die Speisekammer bietet, Schafskäse, Lammbraten, Schafsjoghurt mit Honig und ein wunderbar saures Brot.
    »Schön hast du’s hier«, sagt Celia-Aliena.
    »Sehr schön«, sagt Rosalinde-Ganymed.
    »Immer das gleiche«, sagt der Schäfer.
    »Aber immer schön.«
    »Aber immer gleich schön.«
    »Was ist so eine Schäferei eigentlich wert?« fragt Aliena.
    »Nichts, wenn sie keiner will.«
    Aliena und Ganymed legen auf den Tisch, was sie bei sich tragen: Geld, Gold, Edelsteine. Dem Schäfer klemmt der Kiefer vor Schauen und Staunen. Und eine halbe Stunde, nachdem sie satt geworden sind, gehört den beiden Geschwistern alles – die Herde, der Stall, das Haus, die Vorratskammer und die Dienste des Schäfers. Und am Abend setzen sich die beiden vor die eigene Tür und schauen auf die eigene Wiese.
    »Schön so eine Existenz«, sagt Aliena.
    »Besser als jedes Schloß«, sagt Ganymed.
    Rosalinde und Celia leben glücklich und zufrieden, und der Schäfer sieht gut aus, was ein schöner Anblick für die schöne Aliena ist, die ja keinen Schatz in ihrer Phantasie mit sich herumträgt wie Rosalinde. Und wenn Männerarbeiten gemacht werden müssen, ist der Schäfer froh, daß ein Mann da ist, und Ganymed mit der tiefen Stimme weiß einen derben Männerscherz zu schätzen.
    Die Frau steht am Herd und kocht, der Mann schultert das Gewehr und geht zur Jagd. Und so kommt es, daß Rosalinde, die inzwischen selbst fast schon meint, ein Bursche zu sein, eines Tages auf das Lager des Herzogs trifft.
    Sie hält sich abseits, beobachtet das lustige Treiben auf der Lichtung. Sie braucht ein paar Minuten, um ihren Kopf zurechtzurücken, und sagt laut vor sich hin: »Ich bin ein Mädchen und heiße Rosalinde.« Und dann noch einmal, diesmal mit ihrer glockenreinen Mädchenstimme: »Ich bin Rosalinde.«
    Sie sieht ihren Vater, sieht, daß er glücklich ist und albern und daß ihm nichts abgeht. Das genügt ihr. Nein, sie betritt das Lager nicht. »Ich bin Rosalinde«, sagt sie vor sich hin. »Ich bin Rosalinde, die Frau, die einen Mann spielt.« Damit hat sie im Augenblick genug zu tun, sie will nicht obendrein Rosalinde sein, die die Tochter spielt.
    Auf dem Rückweg zur Schäferei steigen Gedanken in ihr auf. Ein schönes Leben, das wir hier führen, denkt sie. Aber ich bin nicht ich. Und diese Gedanken machen sich hinter ihrer Stirn zu schaffen, so daß sich auf ihrer Stirn kleine Sorgenfalten kräuseln.
    Und dann kommt noch etwas dazu: Als sie so durch den abendlichen Wald streift, sieht sie auf einmal etwas Helles vor sich. Es ist ein Blatt Papier, und dieses Blatt Papier ist an einen Baum geheftet worden, und darauf hat jemand etwas geschrieben. Ein Gedicht nämlich. Rosalinde liest das Gedicht, und sie weiß nicht, soll sie lachen oder weinen. Es ist ein Liebesgedicht.

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