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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Weinen möchte sie, weil sie das auch gern hätte, daß ihr jemand so ein Liebesgedicht schreibt. Lachen möchte sie, weil das Gedicht ein bißchen einfältig und schwerfällig formuliert und, gemessen an dem weiten Feld, auf dem es sich bewegt, recht wortarm ist.
    Vorsichtig löst sie das Gedicht von dem Baumstamm und nimmt es mit und zeigt es zu Hause Celia.
    »Was hältst du davon, Aliena?«
    »Da ist jemand sehr, sehr verliebt, Ganymed.«
    »Ja. Zu sehr verliebt.«
    »Zu sehr?«
    »Ohne vorher die Worte zu befragen, fühlt er mehr, als sie vielleicht sagen könnten.«
    Von nun an findet Rosalinde jeden Tag ein solches Gedicht im Wald. Sie liest sie alle Celia vor, und die beiden weinen und lachen darüber.
    Dann sieht Rosalinde eines Tages Celia außer Atem auf die Schäferhütte zulaufen, und sie hört sie schon von weitem rufen: »Ganymed! Ganymed!«
    Und als Celia endlich wieder zu Atem kommt, sagt sie: »Rosalinde, ich weiß, wer die Gedichte schreibt. Es ist der schöne Ringkämpfer, dem du dein Kettchen geschenkt hast.«
    »Orlando?«
    »Orlando!«
    »Ach, du liebe Zeit!« ruft Rosalinde aus. »Was mache ich denn jetzt? Ich bin in Hosen. Was mache ich mit den Hosen? Hat er etwas gesagt? Hat er von mir geredet? Was hat er angehabt? Wo ist er denn jetzt? Bitte, antworte mir mit einem Wort!«
    »Er saß unter einer Eiche.«
    »Immer schon waren Eichen meine Lieblingsbäume.«
    »Für dich hat er die Gedichte geschrieben.«
    Da wird Rosalinde rot im Gesicht.
    »Oh! Was für schöne Gedichte«, sagt sie leise in ihrer glockenreinen Stimme. »Er fühlt mehr, als Worte sagen können, darum befragt er sie erst gar nicht.«
    Und am nächsten Tag treffen sie ihn. Orlando sitzt, an seine Eiche gelehnt, im Wald, hat die Stirn in die Hände gestützt und seufzt.
    »Siehst du, er mißtraut den Worten«, haucht Rosalinde.
    »Eben«, haucht Celia zurück.
    »He!« sagen sie zu ihm und stellen sich vor: »Ich bin Aliena, und das ist mein Bruder Ganymed.«
    »Und ich bin Orlando.«
    Sie nehmen ihn mit nach Hause zu Schafskäse und Schafsbraten, Schafsmilch und Schafsjoghurt mit Honig, dazu ein Stück gutes saures Brot, und Orlando erzählt ihnen sein Leben. Die ganze Zeit redet er mit dem Gesicht zu Ganymed hin, nur zu Ganymed hin, der gefällt ihm nämlich. Weil er ihn an jemanden erinnert. An jemanden, der ihm wahnsinnig gut gefallen hat.
     
    Das ist die Geschichte des Orlando: Er ist, wie wir bereits wissen, der Sohn des Ritters Roland de Boys. Als der Ritter auf dem Totenbett lag, hat er seinem ältesten Sohn Oliver einen Auftrag gegeben, er hat gesagt: »Hör zu, du mußt dich um deinen jüngeren Bruder Orlando kümmern.
    Du mußt ihm ein Vater sein, du mußt ihm ein Lehrer sein, du mußt ihm ein Bruder sein.«
    Oliver hat seinem Vater versprochen, Orlando die beste Ausbildung zukommen zu lassen. Und als der Vater tot war, da hat sich Oliver gedacht: Warum muß ich das eigentlich? Ich habe doch etwas ganz anderes mit meinem Leben vorgehabt. Außerdem hat er gesehen, daß Orlando viel hübscher ist als er selbst, und alle hatten den Jüngeren viel lieber. Oliver war neidisch auf Orlando und hat sich gedacht: Nein, der soll sich selber erziehen, soll sich selber Vater, Bruder und Lehrer sein.
    Und dann hat er gemerkt, der erzieht sich ja tatsächlich selber, und der Neid wurde gallig. »Ich will nicht, daß du weiter hier bist«, sagte er zu seinem jüngeren Bruder. »Geh und schau, wie du selber durchkommst.«
    »Aber wie soll ich denn mein Brot verdienen?« fragte Orlando. »Ich bin noch nicht fertig mit meiner Ausbildung, Autodidakten haben es schwer.«
    Da hat Oliver gesagt: »Du bist ein starker junger Mann, verdien dir dein Brot durch Ringkämpfe!«
    Und so kam es zu dem Kampf gegen den Rippenentzweibrecher Charles.
    »Mein Bruder hat damit gerechnet, daß Charles mir nicht nur die Rippen, sondern das Genick bricht«, sagt Orlando. »Dann wäre er mich losgewesen.«
    Als er den Rippenentzweibrecher mit Hilfe der Donnerkeile aus Rosalindes Augen gefällt hatte und nach Hause zurückgekehrt war, wartete sein alter Diener Adam auf ihn und warnte: »Geh gleich wieder weg! Dein Bruder weiß bereits, daß du der Sieger bist. Er rast vor Eifersucht. Er will dich töten!«
    Und der gute alte Diener hat Orlando in den Ardennerwald begleitet. »Vielleicht treffen wir dort den alten guten Herzog«, sagte er, »der wird uns aufnehmen.«
    Und so geschah es. Sie trafen den alten guten Herzog, und der nahm sie auf, sie wurden

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