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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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klopft an das Tor zur Klause von Bruder Lorenzo.
    »Hilf mir!«
    Sie erzählt ihm alles.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagt Lorenzo, »Gott hat seine Hand über euch gehalten.«
    Aber Julia macht sich trotzdem Sorgen. »Es soll morgen schon sein«, sagt sie. »Sie haben alles hinter meinem Rücken für die Hochzeit vorbereitet.«
    Erst meint Lorenzo, jetzt wäre es an der Zeit, die wahren Tatsachen aufzudecken. Seht her, Romeo und Julia sind ein Paar, Gott persönlich hat einen Montague zu einer Capulet geführt, niemand darf trennen, was Gott vereinigt hat! Dann aber hat Lorenzo Zweifel bekommen. Der Zeitpunkt scheint ihm nicht günstig. Es könnte das Gegenteil des erwünschten Effektes eintreten. Daß die Tatsachen nicht Frieden stiften, sondern neuen Krieg anfachen.
    »Wir müssen radikal vorgehen«, sagt er, »radikal, radikal!« Und schließlich sagt er: »Ich habe einen Plan. Du mußt tot sein.« Schnell legt er den Finger auf Julias Lippen. »Du mußt tot spielen. Aber alle werden meinen, du bist tot.«
    Er ist wirklich ein verrückter Hund, dieser Lorenzo! Er ist einer, der gern experimentiert. Mit allen Möglichkeiten und allem möglichen. Mit Mädchenherzen und Burschenherzen. Aber auch mit Giften hat er schon seine Experimente gemacht.
    »Bist du bereit, ein Risiko einzugehen?«
    »Jedes Risiko.«
    »Ich habe hier ein Gift, das wirst du heute abend trinken. Es wirkt ein paar Stunden. Morgen, wenn man dich wecken möchte, um dich zur Hochzeit mit dem Grafen Paris abzuholen, dann wirst du sein, als wärst du tot. Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wirst du wieder erwachen.«
    »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?«
    »Ja. Deine Familie wird erschüttert sein wie durch ein Erdbeben. Ich nehme doch an, man liebt dich zu Hause. Die Erschütterung nutzen wir aus. Ich werde Romeo in Mantua verständigen. Dann lege ich die Tatsache auf den Tisch. Wenn Romeo in der Stadt ankommt, wirst du gerade erwachen. Alle sind erleichtert. Was war, ist vergessen. Die Familien versöhnen sich. Alles wird gut. So sieht mein Plan aus.«
    Julia ist kein naiv schwärmendes Mädchen mehr, das da meint, der Tod sei eine vorübergehende Sache, aber eigentlich etwas, was den anderen zustößt, nie einem selbst. Sie will nicht mit dem Tod spielen. Aber sie weiß, die Trennung von ihrem Mann und eine Heirat mit dem Grafen Paris wären wie der Tod.
    Sie trinkt das Gift.
    Am nächsten Morgen findet die Amme Julia tot. Die Trauer erschüttert das Haus der Capulets wie das Erdbeben, von dem Bruder Lorenzo gesprochen hat. Julia wird in der Gruft der Familie aufgebahrt.
    Der Name des Unglücks heißt: Gerücht. Das Gerücht ist schneller als der Bote des Lorenzo. Romeo erfährt über das Gerücht, daß seine Julia tot ist. Ach, hätte Lorenzo, der alles plant und so vieles kennt, so Schwieriges zu berechnen versteht, hätte er doch die Geschwindigkeiten von Botschaft und Gerücht richtig gegeneinander abgewogen! Julia ist die Treppe hinuntergegangen, da war sie ein Kind; sie hat Romeo in ihr Herz gerissen, da war sie ein Frau. Die Liebe hat sie erwachsen gemacht. Romeo wird erwachsen, als er dem Tod in die schwarzen Augenlöcher schaut. Romeo wird ruhig. Ruhig beschafft er sich Gift bei einem Apotheker in Mantua. Dann fährt er nach Verona. Er kennt den Friedhof, kennt das Familiengrab der Capulets. Er bricht ein und sieht seine Frau da liegen.
    Aber noch einer ist gekommen. Graf Paris.
    Was will der hier, fragen wir. Was mischt er seine Angelegenheit zwischen die große Liebe? Wir kennen ihn nicht, darum fällt es uns leicht, ihn nicht zu mögen. Er hat Julia geliebt. Er hat sie schon lange geliebt. Viel länger als Romeo. Graf Paris ist ein Schüchterner, ein Gebildeter, der nicht so schnell das richtige Wort findet, eben weil er weiß, wie viele Wörter es gibt. Sind deswegen seine Hoffnungen und Träume geringer zu achten als die Romeos? Er ist in der Nacht zur Gruft der Capulets geschlichen, um allein zu sein und zu weinen. Was denkt er wohl, als er hört, wie die Tür aufgebrochen wird, als er Romeo, den Montague, vor sich sieht, das Brecheisen in der Hand?
    »Wann hört dieser Krieg endlich auf! Wo macht er halt? Seid ihr Montagues so verhärtet, daß euch nicht einmal der Anblick dieses reinen Wesens Respekt einflößen kann? Willst du ihr Grab schänden?«
    Und Paris wartet nicht auf Antwort. Soll an diesem Ort etwa diskutiert werden? Er greift zur Waffe und geht auf Romeo los. Romeo ist, wie wir sahen,
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