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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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sehen«, verspricht Bruder Lorenzo, »du wirst sehen, es wird alles gut.«
    Als Julia erfährt, daß Romeo verbannt wurde, verzweifelt sie. Und sie verzweifelt an seiner Tat. Sie hat ihren Vetter Tybalt geliebt, er war ein aufbrausender Kerl, hat gern Worte in den Mund genommen, die ihm ein häßliches Gesicht machten, auch Worte, die er nicht immer richtig verstanden hat. Aber er war auch charmant, zu ihr war er immer charmant gewesen, er hätte sich für seine Base Julia ein Ohr abhauen lassen, er gehörte zu ihrer Familie. Sie verflucht Romeo, weil er ihr den Vetter genommen hat. Und sie weint, weil ihr das Gesetz den Mann genommen hat.
    »Du holdseliger Wüterich! Du engelsgleicher Unhold! Du räuberische Taube!«
    So wenig Zeit hat man ihr im Leben gelassen! Gestern war sie ein Kind. Sie war noch ein Kind, als sie die Treppe hinunterging, um mit ihren Freunden Späße zu machen und sich vor ihnen auf der Fußspitze im Kreis zu drehen. Sie war ein Kind, kein Drängen war in ihr, keine ungeduldigen Fragen, wen sie an diesem Abend wohl kennenlernen wird, ob ihre Augen hell genug, ihre Taille schlank genug, ihre Haut weiß genug sei; wie sie die Lippen schürzen soll, wenn ihr einer gefällt, und wie, wenn sie einem gefällt. Sie war ein Kind, als sie über die Treppe in den Saal kam. Und dann traf ihr Blick auf Romeo, der da mitten in der zornigen Schar ihrer Vettern, Schwägern und Cousinen stand, und das Kind eilte aus ihrem Herzen davon, für immer und ohne einen Blick zurück. Und ehe sie das Wort aussprechen konnte, war sie erwachsen. Eine Frau. Eine Frau war sie, die wußte, daß die Liebe das Leben hält und nicht umgekehrt, daß ein Leben ohne Liebe zusammenfallen würde wie eine Mauer, wenn der Regen den Mörtel herausgewaschen hat.
    »Tybalt war mein Vetter«, sagt sie. »Aber Romeo ist mein Mann, und mein Leben ist unser beider Leben, und sein Leben ist unser beider Leben.«
    Als die Schatten lang genug sind, um zu verbergen, was sich im Garten tut, zieht sich Romeo über die Mauerkrone und klettert an dem wilden Wein hinauf zu Julias Schlafgemach.
    Bruder Lorenzo denkt an sie, und er kniet in seiner Klause und betet zu seinem Gott, er möge seine Hand schützend über die beiden und ihre erste Nacht halten.
    »Die Liebe dieser beiden Kinder«, sagt Lorenzo zu seinem Gott, »ist eine Tatsache, die wir beide geschaffen haben. Wie die Hügel, die du geschaffen hast, eine Tatsache sind und das Meer und zum Beispiel eine Pinie und die Kerne in der Pinie.«
    Sie wurden nicht gestört in ihrer Liebe, Mann und Frau. Und das Ende ihrer Nacht verkündet Vogelgesang.
    »Es ist die Lerche«, sagt Romeo, »die Sonne geht gleich auf, ich muß dich verlassen.«
    »Es ist die Nachtigall«, sagt Julia, »die Nacht beginnt doch erst!«
    »Dann will ich noch eine Weile bleiben«, sagt Romeo.
    »Es ist vielleicht aber doch die Lerche«, sagt Julia. »Du mußt aus der Stadt fliehen!«
    Romeo verläßt seine Frau und verläßt die Stadt.
     
    Der neue Tag beginnt mit einem Schock.
    Herr Capulet legt vor dem Frühstück die Hand auf die Schulter seiner Tochter. »Julia«, sagt er, »du bist blaß.«
    »Wie deutest du meine Blässe?« fragt sie.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht aber habe ich eine Nachricht, die dir Freude macht.«
    Nur eine Nachricht könnte Julia Freude machen.
    »Ich habe einen Mann für dich gefunden«, sagt Herr Capulet. »Graf Paris ist ein guter Mann. Er kennt dich, und du kennst ihn. Es gibt die Lauten und die Leisen. Er ist ein Leiser. Vielleicht wirst du in den ersten wenigen Jahren eurer Ehe manchmal denken, ach, war er doch nur ein Lauter, aber in den vielen folgenden Jahren wirst du dankbar sein, daß er ein Leiser ist. Paris ist ein wirklich guter Mann, und er liebt dich. Du wirst bald vierzehn Jahre alt, Julia, du sollst ihn heiraten.«
    Ihr Gesicht wird weiß, und die Lippen werden weiß, und blaß war viel Farbe gegen dieses Weiß. »Ich kann ihn nicht heiraten«, flüstert sie.
    »Warum nicht?«
    »Ich bin voll Trauer um Tybalt, weißt du. Er ist ja noch gar nicht begraben. Laß es uns verschieben, Vater, bitte! Einen Monat, ja? Ein Jahr?«
    Herr Capulet hat dem Paris seine Tochter versprochen.
    Und er hat ihm versprochen, daß er nicht lange warten muß. Er hat zu ihm gesagt: »Mach dir keine Sorgen, das Werben übernehme ich.« Ein Mann sollte sein Versprechen halten. So oft habe ich die Moral mit Füßen getreten, denkt Herr Capulet, ich will jetzt damit beginnen, sie zu achten.
     
    Julia
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