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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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ein guter Fechter, ein viel zu guter Fechter sogar. Die Hand fliegt ihm voraus. Er tötet den Grafen Paris. Dann schluckt er das Gift. Ende.
    Nein, es ist noch nicht das Ende vom Lied. Julia erwacht. Bruder Lorenzo hat sein Gift gut dosiert. Bei allem anderen hat er sich verrechnet. Julia erwacht und sieht neben sich Romeo liegen. Und sie sieht, er ist tot. Mit dem Dolch ihres Mannes nimmt sie sich das Leben.
    Capulet und Montague versöhnen sich. Und? Was und? Macht der Friede zwischen den beiden Familien irgend etwas gut?

Julius Cäsar
    Julius Cäsar kehrt zurück von der Schlacht. Er hat gegen Pompeius Krieg geführt und gewonnen. Cäsars Popularität ist auf dem Höhepunkt. Er zeigt sich dem Volk. Er mißachtet das Protokoll. Was als kurzer Triumphzug durch die Stadt geplant war, zieht sich über den ganzen Tag hin. Hier läßt er anhalten, dort steigt er sogar vom Wagen. Er schüttelt Hände, neigt sich zu den Kindern nieder, nimmt Geschenke entgegen, betrachtet sie eingehend, ehe er sie an seine Leute weiterreicht. Selten sieht man ihn lachen. Würde er heute lachen und die Arme in die Höhe heben, der Menge zum Gruß, jeder würde das verstehen, aber jeder würde auch wissen, was es bedeutet, nämlich: Ich, ich, ich! Sein ernstes Gesicht jedoch verkündet: Ich habe für Rom gesiegt, also für euch! Sein Ernst kommt gut an. Wer heute durch die Straßen von Rom geht, muß drücken und drängen und sich den Atem seiner Mitbürger im Nacken gefallen lassen.
    Cäsar weiß viel über das Volk. Das Volk weiß wenig über Cäsar.
    »Er ist wie wir«, sagen die einen.
    Die anderen sind der gleichen Meinung und fügen hinzu: »Aber doch ganz anders.«
    »Er ist nicht eitel«, sagen die einen.
    »Aber er weiß, was er wert ist«, sagen die anderen.
    »Er ist sachlich.«
    »Aber herzlich.«
    »Er kann unerbittlich sein.«
    »Aber auch nachgiebig.«
    Er ist nicht ein Mann aus dem Volk, aber er ist wie das Volk. So denkt das Volk über Cäsar.
     
    Einige Mitglieder des Senats sehen das freilich anders. Sie sagen aber nicht: Wir sehen das anders als das Volk. Das würde sich für Republikaner nicht ziemen. Sie sagen: »Wir sind skeptisch.« Der Skeptiker wählt sich einen Platz mit viel Bewegungsfreiheit. Erweisen sich seine Zweifel als begründet, darf er mit dem Finger wackeln und darauf hinweisen: Seht, ich hatte recht. Anderenfalls wird er sich rechtzeitig bekehren und ein guter Freund von Julius Cäsar werden; und kein Freund ist ein besserer Freund als ein bekehrter Skeptiker.
    Cassius allerdings ist mehr als nur ein Skeptiker. Er ist Cäsars schärfster Gegner im Senat. Aber Cassius hat kein Licht, er strahlt nicht, er ist ein Schattenmann. Die Natur hat ihn im Dunkeln und Kühlen wachsen lassen, wo Blüten selten sind. Aber sie hat in sein Herz Ehrgeiz gepflanzt, der nach Sonne verlangt. Das Wesen des Cassius giert nach Ergänzung, er braucht immer jemanden, sein Name wird nie allein genannt werden, das weiß er. Cassius ist unglücklich. Er haßt Cäsar. Warum? Nie verliert Cäsar die Beherrschung, nie verliert Cäsar die Geduld. Wenn Cassius Cäsar wäre, er hätte längst die Geduld mit Cassius und die Beherrschung ihm gegenüber verloren. Wäre Cassius Cäsar, er würde Cassius die Luft nehmen! Wen haßt Cassius eigentlich?
    Als endlich die Wettspiele zur Feier des gewonnenen Krieges abgehalten werden, betritt Cassius nicht das Stadion. So viel Ehre für Cäsar wäre eine Zumutung für seine Nerven. Er hält sich abseits. Und er ist nicht der einzige.
    Einige von den Skeptikern scheinen ebenfalls kein Interesse an Feierlichkeiten dieser Art zu haben. Cassius sieht staatstragend besorgte Mienen um sich her. Aber er kennt die Herrschaften, es sind kleine blasse Nummern. Der moralische Hochmut der Zukurzgekommenen bläht sie. Cäsar muß sie nur anschauen, und sie sind nicht mehr da, wie Staub, den man wegbläst.
    Aber dann bemerkt Cassius einen, der ist neu in dieser Runde. Der hat bisher den Umgang mit den Skeptikern gemieden. Es ist Brutus. Cäsars Liebling.
    »Warum ist Brutus hier?« fragt Cassius einen von den Skeptikern.
    »Aus Sorge, verehrter Cassius. Aus Sorge. Wenn ein Brutus die Stirn runzelt, ist es pure Sorge.«
    Und der Skeptiker flattert bedeutungsvoll mit den Brauen. Was aber soll dieses Flattern bedeuten? Irgend etwas. Hier reden alle so, als meinten sie in Wahrheit etwas anderes. Sie halten sich für Ironiker.
    Cassius tritt neben Brutus, spricht ihn an. »Wenn ein Brutus die Stirn runzelt«,
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