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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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denn gehen? Weil alles, was Mercutio sagt, zweideutig ist. Oder sogar mehrdeutig. Und immer anzüglich. Oder bilden wir uns das nur ein? Wenn er zum Beispiel von seinem Degen spricht, meint er dann seinen Degen? Oder denken wir nur, daß er nicht seinen Degen meint? Oder denken wir, er meint seinen Degen, weiß aber, daß wir etwas anderes meinen? – Eine explosivere Verdichtung von Bedeutung in einem Wort hat es noch nicht gegeben.
    Romeo mag den Mercutio. Ein bißchen fürchtet er sich vor ihm. Er ist immer da, immer ist er in Romeos Nähe. Die anderen haben das Gefühl, seine Späße kennen in Wahrheit nur einen Adressaten, nämlich Romeo. Einer spricht aus, was alle denken: »Mercutio ist in Romeo verliebt.« Ist er das? Zugleich nämlich läßt Mercutio keine Gelegenheit aus, Romeo unter die Nase zu reiben, daß er mit dessen Familienangelegenheiten nicht das geringste zu schaffen haben möchte.
    »Stell mich nicht vor die Entscheidung: Montague oder Capulet!« sagt er.
    »Ich würde nie auf die Idee kommen«, antwortet ihm Romeo.
    »Aber angenommen, du kämest auf die Idee: Ich mag nämlich beide Familien nicht. Aber euren Streit mag ich. Die einen wie die anderen können weder richtig schimpfen noch prügeln, noch fechten. Nichts amüsiert mich mehr als ein Wettstreit unter Hanswürsten.«
    Romeo lacht.
    Würde sich Mercutio als Romeos Freund bezeichnen? Fragt ihn lieber nicht! Er könnte eine Antwort geben, die Romeo in der Seele weh tut.
    Mercutios Mundwerk ist wie eine Zirkusvorstellung: Eine Sensation folgt auf die andere, und was man gerade erwartet, das bleibt aus, und womit man gar nicht rechnet, das wird vorgeführt. Einer sagt über ihn: »Hätte Mercutio diese Sensationen nicht zu bieten, keiner würde sich für ihn interessieren.« Benvolio zum Beispiel hat nicht eine Sensation zu bieten, trotzdem mögen ihn alle. Und Romeo ist auf keinem Gebiet herausragend, aber alle lieben ihn. Den Mercutio liebt niemand.
    Romeo sagt: »Doch! Ich liebe ihn. Natürlich liebe ich ihn. Ich könnte mir ein Leben ohne Mercutio nicht vorstellen.«
    Alle glauben ihm, sie glauben Romeo, daß er das glaubt. Aber sie glauben nicht, daß es so ist.
    Gäbe es den Mercutio nicht, oder wäre er gerade an diesem Tag unpäßlich oder verreist oder dringend mit anderen Dingen beschäftigt, kurz: wäre er nicht zusammen mit Benvolio just in dieser Stunde beim Brunnen erschienen, wo Romeo die Stunden nach Minuten zählt, die Geschichte würde anders ausgehen. Spekulieren wir nicht!
     
    Mercutio und Benvolio treffen Romeo, und nur wenige Minuten können sich die Freunde austauschen, da kommt noch einer: Tybalt. Und er ist nicht allein. Und er kommt nicht zufällig vorbei.
    »So«, sagt Tybalt, die Hand am Griff seines Degens.
    »Ich grüße dich, mein guter Capulet!« sagt Romeo und meint es so. Ja. Der Name Capulet hat seit gestern nacht e inen wunderbaren Klang in Romeos Ohr. Am liebsten würde er den Namen immer wieder sagen. Und den geliebten Vornamen am liebsten dazu.
    Aber Tybalt meint, Romeo will sich schon wieder lustig über ihn machen. »Was?«
    »Ich weiß, du willst mich zur Rede stellen wegen gestern nacht«, sagt Romeo. »Wenn du glaubst, ich wollte dich verspotten, dann tut es mir leid.«
    »Ich weiß nicht, wie du dich bei meinem Onkel einschmeicheln konntest«, ätzt Tybalt. »Ich aber sehe die Sache, wie ich sie sehe, nicht wie du sie siehst, und auch nicht, wie mein Onkel sie sieht.«
    »Ich habe nichts gegen dich«, versucht Romeo zu beschwichtigen. Und dann sagt er, was noch nie ein Montague zu einem Capulet gesagt hat: »Ich liebe deine Familie.«
    »Das ist ein guter Satz«, jauchzt Mercutio.
    »Nein, du irrst, Mercutio! Ich meine es, wie ich es sage. Ich halte nichts von Zweideutigkeiten in dieser Angelegenheit. Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du, Tybalt, verstehen, warum ich deine Familie liebe. Und auch dich.«
    Tybalt zieht den Degen. »Du bist zuviel mit dem Wortverdreher zusammen. Liebe heißt Haß. Da brauchen wir keinen Philosophen.«
    Romeo hebt die Hände. »Es ist verboten«, sagt er. »Der Fürst hat recht. Unsere Streitigkeiten müssen ein Ende haben!«
    »He!« ruft Mercutio. »Wollt ihr mich etwa um meinen Spaß bringen?« Und er rempelt Tybalt an. »Verschwinde! Der Brunnen gehört uns. Unsere Hintern haben sich Gewohnheitsrecht erworben.«
    »Was soll ich mit dir?« Tybalt stellt sich Stirn gegen Stirn vor ihn hin.
    Mercutio stößt ihn zurück. »So nah? Willst du mir deinen Degen

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