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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gräfin ist nur froh, daß der Bote des Königs bereits in der Küche ist und sich den Braten mit Klößen schmecken läßt.
     
    Im Schloß der Roussillons lebt auch eine junge Frau, Helena. Sie ist das Mündel der Gräfin, früh ist sie Waise geworden. Ihr Vater war ein berühmter Mann: der Arzt Gerard de Narbonne. Als die Gräfin vor vielen Jahren schwer erkrankt war und die anderen Ärzte sie bereits aufgegeben hatten, war es Gerard de Narbonne gelungen, sie mit Hilfe seiner Kunst ins Leben zurückzuholen. Das hat man ihm im Haus Roussillon nie vergessen. Dann starb erst die Frau des Arztes, dann starb der Arzt selbst, und Helena war allein auf der Welt. Und da nahmen die Roussillons das Kind zu sich, und es war ihnen wie eine Tochter.
    Helena wuchs neben Bertram auf, dem Besucher erschienen sie wie Bruder und Schwester; obwohl sich jeder wunderte, wie verschieden die beiden doch waren. Und wenn man den Besucher hinterher um eine Charakteristik der beiden bat, hörte man: »Sie ist ein liebes, gescheites, phantasievolles, lustiges, hilfsbereites Mädchen.« – Und Bertram? – Da versicherte sich der Besucher erst der Verschwiegenheit, dann sagte er: »Eine hohle Nuß.«
    Helena strotzt vor Energie und Neugierde auf Leben und Welt. Sie ist fix und gründlich, weiß alles, läßt sich dennoch gern belehren. Sie blickt auf die anderen nicht herab, nein, im Gegenteil, sie hegt die feste Überzeugung, alle Menschen sind gleich, und weil sie, wie jeder andere auch, nur einen Menschen kennt, nämlich sich selbst, meint sie, alle Menschen seien wie sie, voll Spannkraft und Wissensdurst, fix und gewissenhaft, und alle hätten es gern, belehrt zu werden.
    Ein Beispiel: Wenn Bertram gerade einmal den müden Finger hebt, um zum Turm hinauf zu zeigen, wo er etwas »irgendwie Komisches« gesehen zu haben glaubt, ist Helena schon oben angekommen und beschreibt in klaren und anschaulichen Sätzen und mit glockensüßer lauter Stimme vom Turm herab dem mundoffenen, blinzelnden Bertram das Schwalbennest, das er gesehen hat, nicht ohne einiges Wissenswertes über Schwalben im allgemeinen einzuflechten.
    »Aber entdeckt habe ich es«, sagt er.
    »Dieses hast du entdeckt«, schränkt Helena ein. »Aber es gibt Hunderte davon in den Giebeln und unter den Vorsprüngen des Schlosses. Was ich dir über dieses Nest erklärt habe, trifft auf die anderen Nester ebenso zu. Jetzt weißt du über alle Schwalbennester Bescheid.«
    »Und wenn schon«, sagt Bertram. »Es interessiert mich nicht im geringsten.«
    Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, daß hohle Nüsse oftmals mit Arroganz gefüllt sind. Arm dran sind die, die einen Arroganten lieben. Besonders arm aber sind die, die eine arrogante hohle Nuß lieben. Bei Bertram nützt der Helena kein Liebsein, kein Gescheitsein, keine Spannkraft, nicht ihre Eloquenz, nicht ihr Humor und ebenso nicht ihr herzwarmes Bedürfnis, immer und jedem zu helfen, sei es, wenn einem der Korb mit Äpfeln auf den Weg gefallen ist, sei es, wenn ein anderer über Aufbau und Funktion von Schwalbennestern weniger weiß, als sie meint, daß jeder Mensch wissen sollte.
    Wenn vorhin gesagt wurde, die Mutter sei die einzige, die ihren Sohn mag, so ist das bei scharfer Differenzierung richtig. Helena nämlich liebt Bertram, und keinen größeren Wunsch kennt sie, als daß er sie heiraten möge. Natürlich besteht ein Standesunterschied zwischen den beiden, Sohn von Graf ist höher als Tochter von Arzt. Aber wen stört das in diesem Fall!
    Die Gräfin Roussillon hat ebenfalls keinen größeren Wunsch, als daß ihre beiden Kinder als Mann und Frau gemeinsam durchs Leben gehen – zumal erstens: sie Helena über alles liebt, zweitens: sie sich Bertram als Gatte neben dieser lieben, gescheiten, phantasievollen und so weiter Frau gut aufgehoben vorstellt, so daß sie sich nicht dauernd sorgen müßte, was er jetzt schon wieder tut oder nicht tut.
    Aber Bertram will nicht. Er will nicht. Er liebt Helena nicht nur nicht, er kann sie nicht einmal besonders leiden.
    »Sie gefällt mir nicht.«
    »Aber Helena ist doch ausnehmend schön!«
    »Weiß ich nicht, ich hab sie mir nie richtig angesehen.«
    »Aber sie würde dir so guttun!« sagt seine Mutter.
    Er will nicht.
    »Du könntest so viel von ihr lernen.«
    Er. Will. Nicht.
    »Alle am Hof in Paris würden dich bewundern, was du für eine liebe, gescheite …«
    »Ich will nicht!«
    Das wäre nämlich Gräfin Roussillons Idee gewesen: daß Helena Bertram nach Paris begleitet,
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