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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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zu erkennen meinte, wie früher nach irgendeinem Unfug oder vor einer Attacke beim Bolzen, was unserem Wiedersehen plötzlich alles Fragliche nahm. Als könnte es kein Vergessen geben. Und es war wohl die damit verbundene Hoffnung auf den alten Einklang zwischen uns, die mich für ihn antworten ließ: »Frag Freddy!«
    Der Mann, an dem mir erst jetzt der spitz vorstehende Adamsapfel auffiel, verengte die Augen. Er hatte das fahle, marderartige Zocker-Gesicht, das es in diesem Milieu offenbar häufiger gab; jedenfalls war es mir so oder ähnlich schon am Rennbahnrand und in den überheizten Räumen der Wettmacher unter der Tribüne aufgefallen, wo alle Schiebermützen und Windjacken trugen, sogar die eine oder andere Frau am Tresen, und er hob das Kinn und sagte eisig: »Bitte? Seit wann duzen wir uns?«
    Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, stellte mein Bier auf den Boden und hätte mich fast schon entschuldigt, da gab Wolf ihm einen Klaps, zog ihm den Lederschirm in die Augen und zwinkerte mir zu. »Also, Alter, ich muss raus, den Klepper anwärmen. Der hat total vernagelte Hufe ... Doch nachher könnten wir noch was trinken, oder? Im Kasino drüben – wie wär’s?«
    »Gern«, antwortete ich erleichtert und stand auf. »Ich muss zwar vorsichtig sein mit dem Sprit, aber wenn du gewinnst, lasse ich eine Flasche Schampus springen. Oder meinetwegen Rotkäppchen-Sekt. Was sagt man denn vor so einem Rennen? Hals und Beinbruch? Oder: Viel Glück?«
    Er nahm einen zerschrammten Helm vom Schrank. »Ach, das brauche ich nicht. Unser Star kommt heute kaum aus dem Mittelfeld. Zu weicher Rücken. Ich wäre schon froh, wenn er im Takt bleibt und sich nicht übergeht.« Dann zog er eine gut zwei Meter lange Peitsche aus der Halterung an der Wand und bog die feine Spitze an den Griff. »Manchmal vergessen die Traber nämlich ihre eigene Gangart.«
    Der Schmied rückte sich die Mütze zurecht. »Wie die Menschen«, fügte er halblaut hinzu und verschwand zwischen den Boxen.
    Immer noch regnete es, stärker sogar. Als ich an die Absperrung kam, hatten sich die Gespanne bereits hinter dem Startauto formiert und bogen in die weit entfernte Nordkurve der Bahn, wo es Laserschranken gab. Eine Weile konnte ich nichts mehr sehen, was auch an der Wölbung des Geländes liegen mochte, und während ich mir einbildete, das Hufgetrappel unter den Füßen zu fühlen – aber vielleicht war es auch nur die S-Bahn am Horizont –, zeigte mir der langohrige, über die Spielgefährten sich erhebende Hase im Brachland mit seinem witternd herumruckenden Kopf, wo in etwa der Pulk lief.
    Dann kam der Startjeep vorbei, ein alter Diesel aus NVA-Beständen; der Auspuffgeruch war mir vertraut. Die langen Metallflügel mit der Handy-Werbung nach hinten geklappt, sauste er ohne Licht auf einer asphaltierten Nebenbahn zum Zielpunkt vor der Tribüne, und ich hörte der Lautsprecherstimme zu, den seltsamen Namen: Dunkle Liebe, Presta Yankee, General November, Rambazamba und natürlich Speedy Shame. Ein paar Sekunden später wurde die Führungsgruppe sichtbar, sechs oder sieben Gespanne, eingehüllt in den Atemhauch und den Schweißdampf der Pferde, denen Schaumflocken von den Lefzen flogen. Manche Vorderläufe wurden fast waagerecht gestreckt, so dass die blanken Eisen blitzten, wenn sie eine Laterne passierten, und der Bahnsand spritzte auf wie Wasser.
    Zwischen die Sulkys, ihre schmalen Räder, die scheinbar nicht sehr fest auf den Naben saßen, hätte kein Messer gepasst, doch die Pferde, die sich ganz ihrem Fluchttrieb überließen und wohl längst vergessen hatten, dass sie einen Wagen zogen, trabten alles andere als synchron. Aufgrund der angezüchteten oder trainierten Laufart immer nur mit zwei Hufen auf dem Boden, schienen sie permanent um ihre Balance bemüht zu sein, was zu ungelenk aussehenden Kopf- und Halsbewegungen führte, zu jähen Tritten aus der Spur, und dem ganzen Pulk ein gefährlich wackeliges, in jedem Moment von einer Massenkarambolage bedrohtes Aussehen gab.
    Dann war er plötzlich so nah, dass ich die aufgeworfenen Kiesel hören konnte, ihr Ticken gegen die Plastikverkleidungen der Speichen und die Brillen der Fahrer, die mit vorgerecktem Kinn hinter den Kruppen hockten und bellende Rufe ausstießen oder sogar knurrten. Manche schlugen mit den Peitschenstielen gegen die Deichseln aus Aluminium, was einen klirrenden, in den Ohren schmerzenden Ton ergab, Wolfs Overall war schlammbespritzt, und als die langgestreckten

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