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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Keine Ahnung, Mann. Ist mir bis heute ein Rätsel.« Er trat seine Zigarette aus, sehr sorgsam, fast bedächtig; trotzdem sprangen ein paar Funken in das Stroh. Doch sie zündeten nicht, und während er mir zum ersten Mal direkt ins Gesicht sah und sich etwas Tabak von der Unterlippe zog, fügte er lächelnd hinzu: »Sag du’s mir ...«
    Einen Moment lang war die Stille zwischen uns vernehmlicher als die Radios oder das Schnauben und Scharren in den Boxen, und natürlich konnte ich verstehen, dass er so etwas dachte; auch ich hatte schon Freunde beargwöhnt und einmal sogar meinen Bruder. Nicht wenige von uns glaubten damals, stärker sein zu können als ihr Gewissen, ein Irrtum, der in vielen bis heute nachwirkt, und in dem leichten Schwindel, der mich überkam, hatte ich wieder den säuerlichen Kupfergeschmack auf der Zunge, wie oft nach den Infusionen, und fragte: »Hast du denn später nicht mal in deine Akte geschaut? Es gibt doch sicher eine, oder?«
    Er hob die Schultern, zog die Mundwinkel herab. »Kann sein«, sagte er. »Ist sogar wahrscheinlich. Es gab ja über alles eine Akte. Aber ehrlich gesagt, ich will es nicht wissen. Ich bin nicht so kultiviert wie du. Womöglich würde ich Unfug machen, und dann wäre alles umsonst gewesen.«
    Er stellte die leere Flasche weg und nahm einen weißen, im Licht leicht durchscheinenden Papieranzug aus dem Schrank. »Vorbei ist vorbei. Ich hab jetzt andere Probleme. Oder sie haben mich. Aber soll ich dir sagen, was mich hochgehalten hat in all den Jahren? Wieso ich das überhaupt ertragen konnte, ohne mich aufzuhängen? Wegen der Pferde hier, der Traber.«
    Rasch schlüpfte er in den Overall und schloss die Druckknöpfe bis zum Hals. »Nicht nur weil sie schön sind und elegant laufen und noch im Zaumzeug frei aussehen und so. Wenn sie gut drauf sind, das Tempo nicht überziehen und die Bahn halbwegs eben ist, gibt es eine spezielle Phase in ihrer Gangart, weißt du. Man kann das nur schwer erkennen und braucht eine Top-Kamera, um es zu fotografieren. Aber ich hab’s dann doch gesehen durch mein vergittertes Fenster. Wenn du ruhig genug hinschaust, siehst du alles, Alter. Sie schweben! Eine Sekunde lang, manchmal auch weniger, sind alle vier Hufe in der Luft, und sie schweben. Und das hat mir die Sache irgendwie leichter gemacht. Keine Ahnung, warum.«
    Ich nickte, trank noch einen Schluck, sagte aber nichts. Ich musste an die Nächte denken, in denen man uns zum Wachdienst verdonnert hatte, Schulter an Schulter in einem Erdloch am See, wo kaum mehr zu hören war als das gelegentliche Tschilpen irgendwelcher Vögel, wie zarteste Silberbeschläge am weit entfernten Rand der Stille. Und wenn er dann den Kopf gehoben und in den mondhellen Himmel über den Tannen geblickt hatte, war derselbe Ausdruck in seinen Augen gewesen wie jetzt: grenzenloses Staunen über die Schönheit des Lebens, trotz aller Zäune und Minenfelder um uns herum, und eine fast kindliche Wundergläubigkeit.
    Der Spruch meiner Großmutter fiel mir ein, die Sache mit dem Knoblauch und der Naivität, und als wieder jene Musik erklang, zeigte ich auf den Lautsprecher. »Wieso wird hier eigentlich immer dieses Klavierstück gespielt, sag mal? Ist das von Mozart?«
    Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, ich hör das kaum noch. Aber du glaubst nicht, wie musikalisch Pferde sind. Die lieben zum Beispiel Abba und Boney M, ohne Scheiß jetzt. Dann kriegen sie gute Laune und sind ganz leicht zu führen. Doch richtig auf Trab kommen sie erst bei diesen klassischen Nummern, Allegro Espresso, oder was. Da zucken die Hufe noch im Schlaf.« Grinsend schloss er seine Manschetten. »Na ja, hab früher auch mit Rammstein trainiert ...«
    Er bückte sich, stopfte die Hosensäume in die Socken, und dann trat der Schmied aus einem Quergang, ohne Schürze jetzt. Er trug eine Windjacke und eine jener Mützen, die man früher Schlägerkeile oder Schieberkappen genannt hatte. »Du, Wolle, es geht los, die spannen grad den Speedy an«, sagte er. »Und den anderen Gaul hab ich erstmal zu dem Wallach gestellt; da wird nichts passieren. Gib dem nicht immer diese Pellets, hörst du. Der hat viel zu viel Saft in der Jacke, guck dir die Futterflecken an. Und ich brauch noch das Alter und den Namen für meine Rechnung. Wie heißt er jetzt?«
    Er öffnete ein Heft, zog einen Bleistift hinter dem Ohr hervor, und Wolf stöhnte auf. Dann sah er mich an, und ich weiß nicht, warum ich in seinem heiter genervten Blick etwas Komplizenhaftes

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