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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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leid«, wiederholte er. »Dieser Gaul dreht durch, wenn er andere Hengste sieht. Der würde am liebsten alle killen. Ich hoffe, Sie haben sich nichts getan?«
    Der Wölbung unter dem Hemd zum Trotz war sein Gesicht nur wenig runder geworden. Der sandige Schimmer von Dreitagestoppeln lag auf den Wangen, und am Kinn gab es nach wie vor jene Mulde, die ihn schon reif und erwachsen wirken ließ, als wir noch milchbärtige Jungs in Uniform waren. Doch die früher einmal gerade Nase hatte wohl einen Schlag abbekommen; in die Haut war irgend etwas eingewachsen, ein paar Pigmente Hufteer vielleicht oder eine Fluse. Auch das einst so helle Blau seiner weit auseinander stehenden Augen war jetzt fast grau, und ich musste grinsen über das Erstaunen, das darin aufging, als ich mit einem Schulterzucken sagte: »Na ja: Ob wir stehen oder fallen ...«
    Schon die erwartungsvolle Pause, die ich machte, schien sich auf das Gesagte zu reimen, jedenfalls für mich. Er aber trat einen Schritt zurück, und momentlang glaubte ich zu sehen, wie der kühle Schatten eines längst vergessenen Schmerzes über seine Züge strich. Er musterte mich noch einmal von den Schuhen bis zum Schopf, argwöhnisch jetzt, unsicher auch; doch dann entspannte sich der Mund, und er streckte den Zeigefinger vor und bewegte ihn auf und ab wie jemand, dem etwas auf der Zunge liegt, etwas seit Unzeiten nicht mehr Gehörtes. Dabei verengte er die Augen. »Scheiße, Mann, ich krieg’s nicht zusammen. Ich sollte mir ein Gehirn anschaffen. Wie war das noch gleich? Ob wir stehen oder fallen, die Volksarmee treibt’s mit uns allen, stimmt’s?«
    Ich sagte nichts, lockerte meinen Schlips, und dann belebte sich sein Gedächtnis, und er hob die Brauen und lächelte breit, wobei mir auffiel, dass die gesamte obere Zahnreihe aus Kronen bestand, schlecht gemacht und arg vergilbt. Schließlich hämmerte er mit der Faust gegen die Stallwand und rief im selben Atemzug wie ich: »Ob im Liegen, ob beim Bücken, am Ende wird uns Mielke ... befördern!«
    Sein Auflachen, ein rauer Laut, hallte in der leeren Box, und er zog mich in eine Umarmung, der schon allein seiner Kraft wegen, der harten Muskeln unter dem Flanell, kaum zu widerstehen war. Doch das wollte ich auch gar nicht; ich schloss sogar die Augen und überließ mich einen Moment lang den großen Händen und dem Geruch nach Rauch, Schweiß und Alkohol und spürte, dass irgend etwas zwischen uns geschah, über das ich keine Kontrolle mehr hatte, das gewaltig war und beiläufig zugleich. Als würden die letzten fünfunddreißig Jahre von einem Herzschlag zum anderen zu einer verstohlenen Träne kondensieren.
    »Achim ...«, sagte er leise. »Mein Gott, wo kommst denn du jetzt her.« Seine Stimme klang plötzlich belegt, und ich wischte mir mit den Fingerrücken über die Wange und versuchte zu lächeln, während ich ihn korrigierte – woraufhin er etwas Luft durch die Nase stieß und den Kopf schüttelte, als wäre er über sich selbst amüsiert. Ein Hauch von Röte färbte seine Stirn. »Natürlich: Armin. Entschuldige!«
    Mit beiden Händen kratzte er sich den Nacken, und ich wollte es ihm leichtmachen und gab ihm einen Klaps; was sind Namen ... Dann gingen wir an das Ende des Ganges, wo er zwei Flaschen Radeberger aus einem Blechschrank nahm. Wir setzten uns auf Strohballen, und er bot mir eine Zigarette an, eine filterlose. »O nein, vielen Dank; das hab ich längst aufgegeben«, sagte ich, und staunte insgeheim darüber, dass jemand noch freiwillig Karo rauchte. Ich tippte mir an die Brust. »Da drin ist irgend etwas gegen mich.«
    Doch er schien mir nicht zugehört zu haben. Er zeigte auf den verstaubten Lautsprecher unter dem Dachsparren und fragte: »Was nuschelt der da? Das ist das dritte Rennen, oder? Beim fünften muss ich raus, ein Fahrer ist ausgefallen. Keine Ahnung, in welchem Puff der den Start verschnarcht.« Dann hebelte er die Kronkorken mit seinem Feuerzeug auf, und wir stießen an. Das Bier war mir einen Tick zu warm, doch Wolf trank gleich die halbe Flasche leer, schnaufend. »Menschenskind! Dass ich dich noch einmal wiedersehe ... Erzähl, was machst du? Immer noch Elektrotechnik?«
    »Mehr oder weniger«, sagte ich. »Eine Weile war ich selbständig, in Oranienburg, als Subunternehmer der Bahn. Dann hab ich noch mal Informatik studiert und bis vor kurzem in Potsdam unterrichtet, an der Fachhochschule. Hat mir eigentlich Spaß gemacht. Aber du weißt ja, wie das heutzutage ist: Wenn du nicht mehr

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