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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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muskulösen, vor Schweiß wie poliert aussehenden Leiber mit den flatternden Mähnen an mir vorüberzogen in einem Augenblick unerbittlicher Ernsthaftigkeit, der trotz aller Regeln, Halfter und Startnummern auch etwas Wahnsinniges hatte, wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich hier sollte und warum ich überhaupt gekommen war ...
    Es knisterte in den Lautsprechern, die Laternen am Bahnrand flackerten, die Reklame des Wettmachers erlosch. Ich hatte übrigens genau auf die Schrittfolgen geachtet, die Hufe, deren Abdrücke sich bereits mit Wasser füllten. Ein Schweben war nirgends zu sehen gewesen, und frierend klappte ich den Mantelkragen hoch und ging zu meinem Auto. Es stand hinter der Tribüne, zwischen Containern voll Dung, wo ich die Verkündung des Siegers schon nicht mehr verstehen konnte und mich zwei Schritte lang fragte, ob es nun Applaus war, was ich da hörte, oder das Geräusch des Regens auf dem schlammigen Weg.

Alte Zwinger
    D amals, in den sechziger Jahren, hatte man besser keine Zahnschmerzen. Es gab nur einen Arzt in der Siedlung, und das Wartezimmer war immer überfüllt. Termine wurden nicht gemacht, die wenigsten besaßen ein Telefon. Falls man unzeitig kam, musste man eben Stunden dasitzen und konnte trotzdem Pech haben; um sechs Uhr abends schickte die Helferin alle Patienten nach Hause. Obwohl er sich nach der Frühschicht beeilte mit dem Duschen und tüchtig in die Pedale trat, schaffte mein Vater es selten, vor halb vier in der Praxis zu sein. Aber dann gab es schon keinen freien Stuhl mehr und kaum noch Chancen auf eine Behandlung, und so musste ich mich in jenen Tagen für ihn anstellen – zunächst in einer immer länger werdenden Reihe vor der Haustür des Arztes, die auch bei schlechtem Wetter erst unmittelbar vor Sprechstundenbeginn geöffnet wurde.
    Ich hasste diese Zeit, besonders, wenn mein Vater sich verspätete, was öfter vorkam. Gegen Ende des Kohlebooms förderte man auf der Zeche Prosper noch einmal viel, und stiegen die riesigen Lastenaufzüge in die Höhe, hatten sich die Arbeiter in ihrem Personenkäfig zu gedulden, oft bis zu einer halben Stunde. Die Luft war schlecht, kaum einer redete ein Wort in dem Warteraum, in dem ein paar Gummibäume standen, und wenn unser Name aufgerufen wurde und ich anderen den Vortritt lassen musste, weil mein Vater immer noch nicht da war, belächelte man mich, als hätte ich Angst vor dem Bohrer. Und fast immer gab es irgendeinen Idioten, der dann sagte: »Hömma, Kleiner, jetzt ist dein Platz aber verfallen, klar? Nach der Perle bin ich dran.«
    Es war wie in der Schule, vor der großen Tafel; alle sahen mich an, und der Schweiß brach mir aus bei dem Versuch, die Situation zu erklären. Doch noch schlimmer wurde es, wenn ich von der Toilette kam und meinen Stuhl besetzt vorfand, so dass ich mich zwischen die Nachzügler in den Flur stellen musste. Keiner machte mir Platz, damit ich mich wenigstens an die Wand lehnen konnte, und mir wurde flau vor Aussichtslosigkeit bei dem Gedanken, man hielte mich für einen der Letzten; dabei war ich doch einer der Ersten gewesen.
    Aber wenn mein Vater endlich in der Tür erschien, klärte sich alles rasch. Er war ein breitschultriger Mann, und seine Wildlederjacke passte gut zu den Samtcordhosen, die er immer trug und die so angenehm rochen, wenn sie neu waren. Das dunkelblonde Haar schimmerte noch feucht von der Kaue, und er nickte der Arzthelferin zu, legte mir eine Hand auf die Schulter und führte mich ins Wartezimmer, mitten hinein; nie wurde er verlegen. Ohne dass er sie wirklich erhob, war seine Stimme einschüchternd voll, er sang den Bass im Bergmannchor, und wenn ich ihm gezeigt hatte, nach wem er an der Reihe war, bedankte er sich mit einem Augenzwinkern und gab mir seinen Fahrradschlüssel.
    Jubelnd trat ich dann in die Pedale. Ich hatte kein eigenes Rad, erst musste die Schrankwand abbezahlt werden, und das meines Vaters war noch zu groß für mich; ich fuhr es meistens im Stehen und ruhte mich zwischendurch auf der Stange aus. Die verrostete Klingel war schwer zu betätigen, lieber hupte ich mit dem Mund, und es machte Spaß, am Nachmittag über den Sportplatz zu rasen und so zu bremsen, dass der Linienkalk in die Höhe flog. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen.
    Jenseits der neuen Kirche mit dem freistehenden Turm gab es eine weitläufige Heide voller Besenginster, und auf den krummen Wegen, oft nur Trampelpfade, spielte ich Gelände-Rallye. Das alte Fahrrad war sehr schwer und

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