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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Morian« stand auf einem kleinen, mit Kuli beschriebenen Zettel –, reagierte niemand. Nur ein paar Schwalben schossen unter der Regenrinne hervor, und er zog sein Sturmfeuerzeug aus der Tasche und klopfte damit gegen die Türscheibe. Der Vorhang dahinter war eigentlich eine Fahne, das Kleeblatt von Rot-Weiß Oberhausen. »Wo ist die alte Fotze denn?«, murmelte er. »Wahrscheinlich wieder besoffen ...«
    Dann machte er eine Kopfbewegung, und ich folgte ihm um das Haus. An der Giebelwand wuchs Moos, ein Fenster war mit Sperrholz vernagelt, auf das jemand ein Hakenkreuz gekratzt hatte, und er bückte sich und schlüpfte unter einem Fliederbusch hindurch. In dem grün durchsonnten Hohlweg war die Erde feucht und schmatzte leise unter den Sohlen, die spitzen Blätter kitzelten mir den Nacken, und plötzlich fühlte ich ein seltsames Ziehen in allen Gliedern, einen herbsüßen Sog, wer weiß wohin.
    Ich schloss einen Moment lang die Augen. Zweige, von Raskin zur Seite gedrückt, kratzten über die Mauer und schlugen mir ins Gesicht, und dann japste ich vor Schreck und hielt mich an dem verbeulten Fallrohr fest. Kaum weiter als drei oder vier Schritte von der Hofseite des Hauses entfernt ging es fast senkrecht in das Baggerloch hinab, in die riesige Kiesgrube mit dem milchblauen See; ich konnte auf die Rücken von Krähen blicken, und die Planierraupen und Menschen dort unten waren nicht größer als das Zubehör meiner Modelleisenbahn.
    Wurzeln ragten aus den schwarzen, hellbraunen und sandfarbenen Erdschichten in die Luft. Vorigen Sommer hatte sich hier noch der Garten der Morians befunden, ein wild wucherndes Indianer-Paradies voller Apfelbäume und alter Zwinger, und atemlos drückte ich mich an der Mauer entlang. Zwar war der Hang um das Haus herum mit unzähligen Stützen und Balken befestigt worden, dennoch gab es Absenkungen und Risse im Boden, und wahrscheinlich machte ich große Augen, denn Raskin lachte. »Da hat er Bammel, der Zwerg. Ist doch praktisch, oder? Die braucht keine Müllabfuhr mehr. Die pfeffert alles aus dem Fenster.«
    Ein Lastauto hupte, ein fanfarenartiger Ton, widerhallend in den Silos, und er zog einen Schlüssel unter der kleinen Treppe hervor und öffnete die Hintertür. Es war düster und roch muffig in dem Flur, der mit durchgelaufenem Stragula ausgelegt war, einem Rosenmuster. An den Wänden hingen Fotos von Frauen in Bikinis, und ich konnte in eine Küche sehen, wo es statt des Wasserhahns eine Pumpe neben dem Spülstein gab. Überall Geschirr voller Speisereste, auch auf dem Boden, und vor dem offenen Kühlschrank glänzte eine Lache und zitterte leicht von dem Betrieb der Bagger in der Tiefe.
    In dem Zimmer auf der anderen Flurseite stand ein Klavier mit einem Campingstuhl davor, und Raskin hämmerte auf die gelblichen Tasten. »He, Schnalle, wo bist du?«, rief er. »Komm Flöte spielen!« Dann stieß er mich an, und ich grinste zwar auch; während wir lauschten, fragte ich mich allerdings, was für eine Art Witz das sein sollte und warum er das Klavier jetzt Flöte nannte. Ein Notenheft lag auf der Fensterbank, »Die Winterreise« von Franz Schubert.
    Nichts und niemand war zu hören, und schließlich öffnete er eine Falttür am Ende des Korridors. Sie hatte holzfarbene Lamellen, an denen Pril-Blumen klebten, und kaum war er dahinter verschwunden, federte sie knarzend wieder zu. Doch ich wagte mich nicht weiter in die Wohnung; ehrlich gesagt wurde mir übel von dem Geruch. Ich versuchte, die Signaturen auf den Fotos zu entziffern. »Rachel Malony«, stand auf einem, »Scarlett de Paris« auf einem anderen, und unter einer fast nackten Frau – eigentlich hatte sie nur zwei spitze, mit Fransen behängte Hütchen auf den Brustwarzen und hielt sich beide Hände vor die Scham, während sie einen Kussmund machte – las ich mit Mühe: »Für Anne Morian, in ewiger Liebe! Stella.« Trotz der Glasrahmen waren die Bilder fleckig und wellig, auch das größte, das eine schöne blonde Frau an einem Konzertflügel zeigte.
    Sie trug ein rückenfreies Kleid mit einer Diamantschnur zwischen den Schulterblättern. An den Tischen im Hintergrund saßen Soldaten, und während ich noch rätselte, ob das deutsche oder amerikanische Uniformen waren, erschien Raskin wieder in der Tür. Die Brauen zusammengezogen, sah er mich einen Moment lang an wie sonst seine Gegner vor Schlägereien; doch war er wohl nur nachdenklich. Dann fiel mir die Uhr an seinem Handgelenk auf, eine Kienzle, und er biss sich

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