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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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etwas Haut von der Lippe, spuckte sie aus und sagte: »Jetzt komm schon rein, Tim. Sie wartet auf dich.«
    Die Dielen unter dem Rosenmuster federten bei jedem Schritt, und der üble Geruch nahm zu. Auf einer Kommode stand eine halbvolle Dose Hundefutter, von hellgrauem Schimmel wie von einem Fell überzogen, und Raskin, der mich immer noch anstarrte, wenn auch mit einem herben Grinsen jetzt, hielt mir die Tür auf. Vorsichtig spähte ich unter seinem Arm hindurch in das Zimmer, in dem ein dunkelgrüner, mit Wäsche und Strümpfen behängter Kachelofen stand, alle Klappen offen. Ein Häufchen Eierkohlen lag auf dem Boden.
    Die fadenscheinigen Stores an den Fenstern waren zugezogen, und ich musste mich erst an das Zwielicht gewöhnen. In einem Glasschrank in der Ecke schimmerten goldverzierte Tassen, wie auch meine Oma sie sammelte, unter der Decke hing ein Fliegenfänger aus Klebeband, und auf den Cocktailsesseln stapelten sich zerlesene Bücher, manche aus unserer Pfarrbücherei. Die Tapete war mit einem Bambusmuster bedruckt, und überall standen Flaschen und randvolle Aschenbecher herum. Nur einer, ein gelber mit der Aufschrift Ricard, war ganz sauber und enthielt einen winzigen Rest getrockneter Milch.
    Die vielen Schatten im Raum verwirrten mich. Frau Morian lag auf einer ausgeklappten Couch in der Zimmermitte, und das erste, was ich dachte, war: Warum schläft die denn ohne Bettwäsche. Nicht einmal eine Wolldecke hatte sie über das Polster gebreitet, und das fleckige Zudeck war unbezogen; hier und da stachen Daunenkiele aus dem roten Stoff. Ein Bein ragte ein Stück weit darunter hervor, eine dicke Wade voller Krampfadern, und die Nägel an den Zehen waren in die Haut eingewachsen. Aber an der Fußtaille hing ein Kettchen.
    Um das Gesicht der Frau hinter dem Plumeau sehen zu können, musste ich noch einen Schritt näher treten, auf Kataloge und Zeitschriften, wobei ich mit der Schuhspitze irgend etwas Weiches berührte und zusammenschreckte. Es war aber nur ein Paar alter Schlappen aus künstlichem, von irgendeiner Flüssigkeit verklebtem Fell. Trübe Sonnenstrahlen fielen durch die Vorhangschlitze auf das Sofa.
    Frau Morians Kopf war weit in den Nacken gebogen. Das Gesicht mit den eingesunkenen Wangen kam mir viel schmaler vor als sonst, grauer auch; der künstliche Schönheitsfleck lag auf dem Kissen. Das Weiße in den halb geöffneten Augen sah schleimig aus, in den Wimpern hingen Staubflocken, irgendwelche Pollen, und der Mund stand so weit offen – zwischen den bläulichen Lippen und ihrem Gebiss, dem Plastikzahnfleisch, klaffte ein Spalt. »O Gott«, flüsterte ich. »Was hat sie denn? Braucht sie Hilfe?«
    Ich hatte wohl gestottert, denn Raskin, der sich gerade eine Zigarette ansteckte, gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und sagte in normaler Lautstärke: »Stell dich nicht so b-blöd an, Mensch. Noch nie ’ne Tote gesehen?« Er zeigte auf den Tisch zwischen den Fenstern, die Obstschale voller Röhrchen, Schachteln und Ampullen. »Die war von morgens bis abends krank. Der ganze Bauch voller Schnitte ... Aber immer gut gepichelt. Für ’ne Flasche Martini kriegtest du alles von der. Ich glaub, du bist der Einzige in der Siedlung, dem sie’s noch nicht besorgt hat.«
    Zigarette im Mund, stopfte er beide Fäuste in die Taschen seiner Jeans, und wieder verdunkelte sich der Blick, die Wangenknochen zuckten. Rauch stieg ihm aus der Nase. Mit der Stiefelspitze zerdrückte er eine Pille auf dem Boden, bis sie nur noch weißes Pulver war, und plötzlich trat er so heftig gegen das Couchgestell, dass der Kopf der Frau sich bewegte. »Gottverdammte Scheiße! Ich war vielleicht geil! Und die kratzt einfach ab, die blöde Kuh!«
    Ich setzte mich auf einen Sessel, auf die Kante bloß, und schob die Hände unter die Achseln. Natürlich hatte ich schon einmal einen Toten gesehen, meinen Großvater, aber der hatte lächelnd zwischen Blumen gelegen und eigentlich wie immer gewirkt, wie beim Mittagsschlaf. Nur der Scheitel war an der falschen Seite gewesen. »Wir müssen jemanden rufen, oder? Sie kann ja nicht hier bleiben«, sagte ich und stieß leise auf. »Vielleicht einen Arzt? Oder einen Priester? Wen ruft man denn da? Die Feuerwehr?«
    Mein Speichel schmeckte plötzlich so wie früher, wenn ein Milchzahn ausgefallen war. Doch Raskin schien nicht zugehört zu haben. Er legte seine Zigarette weg, klappte eine Ecke des Federbetts um und starrte eine Weile auf die Verstorbene. Dabei pfiff er vor sich hin und

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