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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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ihm unangenehm war, in Gegenwart der Frau davon zu erzählen. Ihre Pumps hatten dieselbe Farbe wie das Kostüm, ein helles Beige, die schwungvoll ondulierten Haare berührten gerade den Blusenkragen, und ich überlegte, wann ich diese Frisur schon einmal gesehen hatte. Doch es fiel mir nicht ein.
    »Die Kohle ist ausgeräumt, und bevor man alles wieder mit Schutt oder Geröll zustopft, bedankt man sich bei der Erde mit einem Lied«, sagte mein Vater. »Das ist ein alter Brauch.«
    Dann gab er mir den Fahrradschlüssel, zückte einen Kugelschreiber und begann, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Das machte er meistens, wenn er seine Ruhe haben wollte.
    Man konnte das Geschrei der Spieler auf dem Sportplatz hören, die Tritte gegen den schlaffen Ball, und ich blickte aus dem Fenster mit den Metallfäden im Glas zu der feinen Sichel des Tagmonds hinauf. Aus der Heimatkunde wusste ich, dass manche Flöze mehr als tausend Meter tief lagen und sich durch das halbe Ruhrgebiet schlängelten, und während draußen der Verkehr über die Dorstener Straße rauschte und die Ampel auf Rot und Grün und wieder auf Rot schaltete, während die Nachbarn ihre Einkaufswagen durch den »Schätzlein«-Markt schoben und die neue Kirchenglocke schlug, dachte ich an den schwarz gekleideten Chor in der Dunkelheit, seinen Gesang unter der Erde. Und keiner wusste etwas davon. Ein Auto auf der Kreuzung bremste scharf. Ein Fußgänger fluchte.
    Manchmal, besonders bei den leiseren Liedern, klangen die Stimmen, wie Herdfeuer glüht. »Aber vielleicht ...«, sagte ich und zog kurz die Nase hoch; ich war immer noch etwas verschnupft. »Vielleicht hören euch die Toten? Könnte das sein? Die sind ja auch da unten. Und dann wäre es nicht so still für sie.«
    Mein Vater sah mich an, runzelte die Stirn, und möglicherweise hätte er jetzt so etwas wie »Was ist denn mit dir los?« oder »Spinnst du schon wieder?« gemurmelt; unter meinen Aufsätzen stand öfter »Thema verfehlt«, und dann setzte es eine Fünf. Doch die Frau, die keinen Schmuck trug, nicht einmal eine Uhr, legte ihr Blatt zur Seite, verschränkte die Hände mit den lackierten Nägeln im Schoß und lächelte mich so heiter überrascht und herzlich an, dass sich seine Gesichtszüge entspannten. Er reichte mir sogar sein Taschentuch. Dabei musterte er sie kurz einmal, ihre Bluse, die Hüften, den wippenden Fuß, und wollte wohl etwas sagen.
    Jedenfalls holte er Atem, und sie senkte die Lider, strich sich eine Locke hinters Ohr. Aber dann ging die Tür auf, sie wurde in die Praxis gerufen, und er setzte sich bequemer hin und öffnete den Halsknopf an seiner Kluft. Die Brusthaare wuchsen fast bis zur Kehle.
    Nebenan wurde gelacht, irgendwelche Instrumente klirrten, und ich steckte den Fahrradschlüssel ein. Jetzt, wo sie weg war, roch ich das Parfüm der Frau; aber vielleicht war es auch in dem Tuch gewesen, und ich fragte: »Papa?« Wieder sirrte der Bohrer. »Warum musst du eigentlich so oft hierher? Ist das schlimm, was du hast? Kriegst du ein künstliches Gebiss?«
    Er stieß etwas Luft durch die Nase, sah jedoch nicht auf von seinem Rätsel. Er sprach wieder ganz normal. »Wieso? Würde dich das stören?«
    Ich hob die Schultern. »Weiß nicht ... Oder doch, ich glaube. Das wäre nicht schön.«
    Er schmunzelte, fuhr mir rasch einmal über den Kopf. »Nein, keine Sorge, Tim. Ich krieg kein Gebiss. Alles in allem haben wir ganz gute Zähne. Dein Opa hatte nicht eine Plombe. Und jetzt hau ab, ja? Und fahr nicht wieder durch Glas. Auch Flickzeug kostet Geld.«
    Dann zog er seine Blechdose hervor und gab mir ein paar Karamellbonbons. Meine Mutter machte sie selbst, aus Sahne und Zucker und einer Prise Salz, und ich lief hinaus und stieg auf sein Rad, das mir plötzlich gar nicht mehr so groß vorkam.
    Wenn ich die Beine bis in die Fußspitzen streckte und das Becken zu der jeweiligen Seite neigte, konnte ich die Pedale sogar im Sitzen berühren. Doch die Klingel ließ sich nach wie vor nur schwer bewegen, und ich stieß mein lautestes Mohikaner-Geheul aus, als ich zwischen den Ballspielern hindurch über den Aschenplatz fuhr und an einer Ecke so scharf bremste – der Kalk der Markierung flog auf wie Rauch.

Tempelschlaf
    D er Frosch war nicht aus Plastik. Auch sie hatte es zuerst gedacht, der grellgrünen Farbe und der roten Augen wegen. Reglos saß er auf der Gartenpforte, und es gab keine Atembewegung unter der Kehle. Doch als David an der Schnur neben dem Briefkasten zog, schnellte das

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