Shakespeares Hühner
veränderte sich; an dem Klebeband unter der Decke summten ein paar Fliegen. Bis auf die Sohlen der Frau konnte ich nicht sehen, was er sah, doch irgend etwas stieg mir säuerlich die Kehle hoch. Ich blähte die Backen und rülpste leise. Auch Raskin wurde fahl, wie mir schien. Die Bettzipfel noch in den Händen, wendete er den Kopf ab, zog die Nase kraus und schloss kurz die Augen.
»Uh, nee!«, keuchte er. »Ich nehm alles zurück. Die ist doch nicht mehr gut.« Und dann lief ich hinaus und erbrach mich.
Am darauf folgenden Morgen hatte ich Ausschlag und Fieber und auch etwas Schnupfen und musste nicht in die Schule. Ich las den ganzen Tag in »Der letzte Mohikaner« und fragte meine Mutter, ob man von Leichengift sterben könne. Sie war damit beschäftigt, die gereinigten Stores aufzuhängen; sie hatte Stecknadeln zwischen den Lippen, zählte die Falten ab und sagte, ich solle sie mit meinen Räuberpistolen in Ruhe lassen. Dann fragte ich sie, wer Franz Schubert sei, doch sie wusste es nicht, und ich schlug im Lexikon nach und las, dass er auch schon tot war. Er habe ein kurzes, unglückliches, von Krankheit überschattetes Leben gehabt, und in seinen Kompositionen gebe es eine lächelnde Wehmut, stand da. Eine Weile drehte ich am Radioknopf herum in der Hoffnung, sie würden etwas von ihm bringen. Der Empfang, der ohnehin oft gestört war wegen der Fördertürme, wurde durch ein drohendes Gewitter noch verschlechtert; die Leuchtskala mit den Städtenamen flackerte. Bei Riga fand ich dann zwar klassische Musik, und sie hörte sich auch wie Wehmut an, aber als meine Mutter fertig war mit den Gardinen, schickte sie mich ins Bett und stellte wieder ihren Schlagersender ein.
In der Nacht träumte ich von den alten Zwingern aus Backsteinen und Stahl und der Hitze unter dem Wellblechdach. Eine Zeitlang hatten wir fast täglich dort gespielt, doch ein Hund war nie darin gewesen. Auch in dem Traum befanden sich nur Fressnäpfe und kalkige Kotreste hinter den Gittern, und die rostigen Türen, die immer gequietscht hatten, bewegten sich völlig lautlos im Wind.
Am übernächsten Morgen war das Fieber weg, leider; ich musste zum Unterricht und später auch wieder in die Zahnarztpraxis. Weil im Fernsehen aber gerade die Mondlandung lief – eine langweilige Sache, meistens zeigten sie das Kontrollzentrum in Houston –, war das Wartezimmer so gut wie leer, was mich ziemlich ärgerte; ich wäre gern zum Schwimmen an den Kiessee gegangen. Während hinter der Tür der Bohrer sirrte, saß ich allein mit einer Frau zwischen den Gummibäumen und blätterte in einem alten »Fix und Foxi«-Heft.
Zum Glück kam mein Vater etwas früher. Offenbar war er so verblüfft über den leeren Raum, dass er zu grüßen vergaß. Er trug seine neue schwarze, mit geflochtenen Schulterlitzen und goldenen Knöpfen verzierte Knappenuniform und hängte die topfartige Mütze mit dem eingewebten Bergbauzeichen an einen Haken. Seine Hosenbänder schimmerten leicht, genau wie die glatte Seite der Briketts, und die Frau ließ ihre Zeitschrift sinken und blickte zu ihm auf, als wäre er ein General. Doch er lächelte mich an. »Ach Gott«, sagte er, wobei er seltsamerweise flüsterte. »Da hättest du ja gar nicht herkommen müssen. Tut mir leid.«
»Kein Problem«, antwortete ich. »Warst du singen?«
Er setzte sich, zog eine »Neue Ruhrzeitung« vom Tisch und nickte. Wie oft nach Feierabend hatte er Schatten unter den Augen. Außerdem war er weniger glatt rasiert als sonst, und die blonde Frau blickte immer mal wieder über den Illustriertenrand. Die Beine übereinander geschlagen, ließ sie eine Fußspitze wippen, so dass ich das Preisschild unter der Schuhkehle sehen konnte.
»Und wo hast du gesungen?«, fragte ich. »Auf einem Begräbnis?«
»Was?« Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?«
Ich zuckte mit den Achseln. Kirchenprozessionen und Schützenfeste einmal ausgenommen, sang er gewöhnlich auf Hochzeiten von Kumpeln, von denen er oft beschwipst nach Hause kam, oder eben auf ihren Beerdigungen; danach war er meistens nüchtern. Doch das wagte ich nicht zu sagen.
»Wir haben unter Tage gesungen«, murmelte er. »Ein Flöz war leer, und dann rückt man an zum letzten Lied.«
»Unter Tage?«, fragte ich. »Für wen? Wer hört euch denn da?«
Er zog kurz die Mundwinkel herab. »Die paar Hauer, die grad in der Nähe sind. Aber das ist nicht so wichtig ...«
Immer noch sprach er gedämpft, und ich hatte das Gefühl, dass es
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