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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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schniefend die Hälfte ihres Inhalts in den Mund, wobei die Hitze niemanden zu stören schien. Die Gläser der Brillenträger beschlugen, und nachdem der ungewürzte Brei, ohne viel zu kauen, hinuntergeschlungen war, stellte man die Schale in die Reihe zurück. Auch das Gemüse und die Tofuwürfel, rasch in Sojasauce getunkt, wurden fast in Gänze verschluckt; man konnte das knorpelige Knacken in den Kehlen hören, und Marisa stöhnte leise. David hatte einen hochroten Kopf.
    Zwischendurch fiel kein Wort. Die Hände flach auf der Tischplatte, die Blicke gesenkt, warteten die Mönche auf die langsamen Novizen, und kaum waren alle Portionen zur Hälfte gegessen, machte man sich an den Rest: wieder gleichzeitig Reis, Gemüse und Tofu, und Marisa bekam das Gefühl von etwas Kantigem im Bauch und schloss die Lider, damit der Schweiß ihr nicht in die Augen lief. Irgend jemand furzte, was aber keiner beachtete, und schließlich wurden die Schalen mit einem Schluck Tee gefüllt, den man so lange schwenkte, bis sie sauber waren. Man trank sie aus, stellte sie ineinander, legte die Servietten darüber, und die Mahlzeit war, nach nicht einmal zehn Minuten, beendet. »One hour break«, sagte Lew.
    Während er und Nikolai Hand in Hand in das Schlafhaus am Ende der Schotterstraße gingen, setzten sich Reto und Michele in die Bibliothek, einem abendländisch anmutenden Raum voller Glasschränke und grün beschirmter Lampen, wo sie mit Tusche und Pinseln an einer Schriftrolle arbeiteten. David kramte sein Smartphone aus der Reisetasche und schlug einen Spaziergang vor. Ein schwarzer Storch stakste durch die Felder, und langsam gingen sie auf die Berghänge zu, an denen dicht an dicht die kugelförmigen Teesträucher wuchsen. »Mein Gott«, stöhnte Marisa und hielt sich den Bauch. »Hast du irgendwas von dem Zeug geschmeckt? Warum schlingen die nicht gleich die ganzen Holzschalen hinunter ...«
    Doch David, der gerade seine E-Mails durchsah, lächelte nicht. »Essen im Zen-Kloster, das ist nur Energiezufuhr«, sagte er in fast dozierendem Ton. »Man gönnt dem Körper gerade so viel, dass er den Anstrengungen der spirituellen Übungen gewachsen bleibt. Der wahre Mönch verspeist das Universum, verstehst du?« Dabei klopfte er ihr sanft auf den Hintern, eine Andeutung, die sie nur zu gut verstand. Im Hotelbad gab es eine Waage.
    »Aber du hast natürlich recht«, fuhr er fort. »Diese Genussfeindlichkeit ist Krampf. Jede Religion hat ihren Paulus. Dabei war der historische Buddha ein Gourmet; er starb nach einer Portion Wildschweinbraten. – Wusstest du übrigens, dass die klassischen Krankheiten der Zen-Mönche Magengeschwüre und Hämorrhoiden sind? Den Grund für erstere haben wir gerade erfahren, und letztere werden wir uns wohl gleich zuziehen, beim stundenlangen Sitzen auf den harten Kissen. Die sind hier mit Kirschkernen gefüllt.«
    Doch das stimmte nicht. Ihres jedenfalls war mit Kapok ausgestopft, die Fasern quollen aus den Nähten. Zudem gab es obskure Flecken auf dem schwarzen Bezug, und wieder juckte ihr alles. Sie durfte sich aber nicht kratzen; während der Meditation, dem Zazen, das mit einer Silberglocke eingeläutet wurde, sollte man absolut reglos bleiben. Das Gesicht zur Wand, den Nacken gestrafft, hockte man im Lotussitz auf niedrigen Podesten, wobei die Hände im Schoß lagen und die Daumenspitzen sich leicht berührten. Die Augen blieben geöffnet, die Lippen geschlossen, und nun hatte man tief atmend auf seine Haltung zu achten und in einer Art gedankenloser Geistesgegenwart zu ruhen – »like water in water«, wie Lew während seiner kurzen Unterweisung sagte.
    Im Gegensatz zu den anderen, die vor weißen Wänden saßen, konnte Marisa durch eine Glastür ins Freie blicken, wo jenseits der hölzernen, den ganzen Tempel umlaufenden Veranda ein paar Steinlaternen standen und verschiedenfarbige Moose zwischen den Bäumen wuchsen, keine Blumen. In einem Rinnsal drehte sich ein Wasserrad aus Kork, hier und da krochen Eidechsen über die Wege, und eine violett schimmernde Libelle durchzuckte die Luft, um dann wie festgezaubert darin schweben zu bleiben.
    Erneut biss sie die Zähne zusammen und verbarg so ein Gähnen. Lange hatten sie in der Bar des Kulturinstituts gesessen, bis weit nach Mitternacht, eine Abschiedsfeier mit endlosen Reden, faden Suppen und roh aus der Schale zu löffelnden Seeigeln. Und natürlich mit Alkohol, der hier offenbar weniger gut vertragen wurde als in Europa. Schon nach zwei, drei

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