Shakespeares Hühner
einmal eine Suppe. Michele zog die große Plastikdose vom Regal und reichte jedem einen Keks, und Nikolai zerteilte einen Apfel in sechs Stücke. Man aß wortlos im Stehen und trank ein Glas sehr süßen, aus Sirup bereiteten Saft dazu. Und das war das Abendbrot.
Nun folgte die Verehrung der Toten. Lew hüllte sich in ein langes schwarzes Gewand, setzte eine goldbestickte Kappe auf, und alle schlüpften in ihre Sandalen. Nach wie vor regnete es stark, doch niemand zog einen Schirm aus der Milchkanne neben der Tür. Einer hinter dem anderen gingen sie zwischen den Reisfeldern, wo es zu brodeln schien vor quakenden Fröschen, in das nahe gelegene Dorf, eine Handvoll kastenförmiger, hier und da noch rissiger, meistens aber schon wieder ausgebesserter Häuser. Vor allen Fenstern Läden, und die vereinzelten Laternen, an Kabeln hoch über der Straße hängend, schwankten im Wind.
Die Flip-Flops schaufelten den Marschierenden das warme Pfützenwasser in die Kniekehlen, und Reto, der am Ende ihres Zuges ging, schlug hin und wieder Klötze aus poliertem Hartholz zusammen, was einen streng klingenden, Achtung gebietenden Ton ergab. Eine junge Familie, soeben aus ihrem Van gestiegen, blieb ehrfürchtig am Bordstein stehen: Die Eltern stellten die Einkaufstüten und die beiden Kinder ihre grellbunten Schultaschen auf die Straße, und alle legten die Hände an die Oberschenkel und verneigten sich so lange, bis die Prozession vorüber war. Unwillkürlich nickte Marisa ihnen zu.
Hinter großen Silos am Ausgang des Dorfes stand ein weiterer Tempel, efeubewachsen, und Lew schob die Tür auf und knipste eine Papierlampe an. Der annähernd quadratische, bis in die Spitze des Pagodendachs hinaufreichende Raum war voll filigraner Wandschnitzereien, ganz in Rot und Gold gehalten. Drei Öllampen flackerten vor einer Buddha-Statue, und nachdem Michele ein paar tote Fliegen von der Altardecke gewischt und ein Bündel Räucherstäbchen angezündet hatte, stellte man sich in einem Halbkreis auf und faltete die Hände vor der Brust.
Die Augen geschlossen, die Stimme betont tief, stimmte Lew nun Litaneien an in einer Sprache, die Marisa trotz ihrer Kurse bis in die Melodie hinein fremd blieb, Altjapanisch wohl. Der Antwortgesang, von allen rezitiert, mündete stets in sogenannten Niederwerfungen, ein Ausdruck, den sie aus Davids Büchern kannte und der hier mehr als wörtlich genommen wurde: Nach jeder Strophe fiel man blitzartig auf die Knie, wobei der Boden krachte wie in einer Judohalle, und drückte Stirn und Handrücken auf die Matten. Um drei Sekunden später, nach barschem Befehl des Vorbeters, ähnlich blitzartig wieder aufzustehen.
Dass David mit seinen mehr als fünfzig und sie mit ihren achtunddreißig Jahren das nicht halbwegs so schnell zuwege bringen würden, war klar; dennoch bemühten sie sich redlich – was aber nur zu albernen Rhythmusverschiebungen führte. Ihre Stirnen hatten den Boden noch nicht berührt, da standen die anderen schon wieder auf den Füßen und sangen weiter, und kaum hatten sie sich hochgerappelt und die Hände vor der Brust gefaltet, sanken die Mönche auf die Knie. Fast sah es aus, als hätten sie Freude an ihrer überlegenen Gelenkigkeit, und schließlich blieben die Novizen einfach stehen. Während David die Lippen bewegte, als würde er beten, steckte Marisa sich die Haare fest.
Dabei zitterten ihre Finger. In den Wassertropfen, die ihr über den Mund liefen, konnte sie Reste der Wimperntusche schmecken und kurz darauf das Salz der Tränen ... Was bedeutete sie ihrem Mann eigentlich noch? Wann hatten sie das letzte Mal miteinander geschlafen? Dieses Kind-Thema überhaupt anzusprechen war natürlich der finale, der tief böse gemeinte Stich der Japanerin gewesen, jetzt, wo sie einander frühestens nach Jahresfrist wiedersehen würden, im Kongresszentrum in Berlin. Und dass David ihr die Antwort abgenommen hatte, empfand sie als zusätzliche Kränkung, auch wenn sein freundliches, gewissermaßen mit weichen Flicken an den Ellbogen geäußertes »Es hat sich halt noch nicht ergeben« als vorsorgliche Schadensbegrenzung gemeint war. Denn natürlich hatte er ihre wehe Empörung gespürt ... Und er wusste, sie konnte zurückschlagen.
Als die Andacht zu Ende war, riss sie ein Papiertuch aus einer Box an der Wand und putzte sich die Nase – im Grunde eine Unhöflichkeit, aber schließlich gab es hier keinen Japaner. In den Bergen war das Pfeifen eines Zuges zu hören. Der Wind hatte nachgelassen,
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