Shakespeares Hühner
aussahen. Die hatte sie herauszulesen, und zwar rasch. Der Mönch tippte auf seine Uhr.
Marisa unterdrückte ein Gähnen. Die vergangene Nacht war kurz gewesen, und nicht nur sie. In der letzten Woche hatten sie über ein Dutzend Shinto-Schreine besucht, mit Mönchen der Rinzai-, der Tendai- und der Soto-Sekte gesprochen, in versprengten christlichen Gemeinden an den Gottesdiensten und in der »Japanischen Muslim-Föderation« am Freitagsgebet teilgenommen. Zusammen mit den Vorträgen in den Oberschulen und Universitäten, manchmal zwei an einem Tag, und den feuchtfröhlichen Debatten bis tief in die Nacht war das alles sehr anstrengend gewesen, und so hatte Frau Tayô vom Kulturinstitut noch einen Aufenthalt in Kurokawa Onsen für sie eingeplant, nichts als heiße Quellen und Massagen.
Aber wie groß waren ihre Augen geworden, als David sie bat, stattdessen ein Zen-Kloster ausfindig zu machen, das Gäste an der täglichen Meditationspraxis teilnehmen ließ. Einen Moment lang vergaß sie völlig, dass er Religionswissenschaftler war. Warum wolle er sich unglücklich machen, fragte sie in ihrem etwas staksigen Deutsch; es sei ganz furchtbar bei diesen Mönchen. Kaum schlafen, kaum essen und den ganzen Tag auf einem harten Kissen hocken und die Wand anstarren – das täten nur Verrückte. Doch David blieb beharrlich, und seufzend klappte sie ihr Notebook auf, wählte ein paar Telefonnummern und fand so ein Kloster, keine Taxistunde entfernt. Die schöne Frau Tayô, die immer weiße Blusen trug und deren Stimme, sobald sie japanisch sprach, kaum mehr als ein lauteres Hauchen war, machte alles möglich, und noch am selben Tag ließ er ihr einen Rosenstrauß schicken.
Nachdem der Reis gereinigt war, legte Lew ein Messer vor sie hin und wies auf eine Schüssel Gemüse. Fein zerkleinern sollte sie alles, und zügig machte sie sich an die Arbeit, wie sie es gewohnt war. Doch wann immer sie dem Mönch das Brett mit den bunten Haufen hinschob, schnalzte er missbilligend und vollführte ein paar hackende Bewegungen mit der Hand. Die Lauchstücke sollten der Länge nach in feine Fäden, die Karottenwürfel klein wie Zündholzköpfe und die Ingwerscheiben durchsichtig dünn geschnitten werden, und das war wohl erzieherisch gemeint, eine Übung in Achtsamkeit. Denn am Ende kippte er alles zum Reis in den Schnellkochtopf.
Das Toilettenhäuschen mit den dazugehörigen Duschen, von einer hohen Buchsbaumhecke umwachsen, stand am Rand des Gartens und hatte ebenfalls ein Pagodendach. Während das Frauen-WC einen leidlich sauberen, offenbar selten benutzten Eindruck machte, war das Männerklo unglaublich verdreckt. Die Holzbrille lehnte neben dem Topf an der Wand, Urinstein und auch Erdigeres sprenkelte die Kacheln bis in Bauchhöhe, und David kniete auf dem versifften Boden und kratzte mit einer Rasierklinge die Verkrustungen aus der Schüssel. Dabei stöhnte er leise.
Dass er in Frau Tayô mehr als einen guten und hilfreichen Geist sah, hatte bisher nichts verraten, nicht einmal eine betonte Sachlichkeit im Umgang mit ihr. Aber Marisa, deren Sinne geschärft waren durch seine Eskapaden mit der einen oder anderen Studentin – am Ende hatte sie noch stets darüber hinwegsehen können, weil sie über die Kraft ihres Mannes besser im Bild war als er –, fühlte sich plötzlich alarmiert von jenem Blumengruß. Die Mühen der Frau, einer brillanten Dolmetscherin, waren sicher nicht gering zu schätzen; sie hatte ihnen vieles erleichtert. Doch ein einfacher Dank sieht anders aus. Tulpen oder Pralinen hätten es auch getan, und sie musterte eine Weile Davids schulterlange Haare, das zunehmende Grau, ehe sie gegen den Türpfosten klopfte. Da schreckte er zusammen. »Wasch dir die Hände«, murmelte sie. »Das Essen ist fertig.«
Lew, der am Kopfende des Verandatisches saß, schöpfte ihnen die Holzschalen voll. Drei standen vor jedem: eine von der Größe einer französischen Milchkaffeetasse für den Reis, der viel zu lange gekocht hatte, eine mittelgroße für ein bräunliches Gemüse, Pilze wohl, und eine kleine, in der ein paar Tofubrocken lagen. In der Mitte des Tisches dampfte eine Kanne Tee. Freundlicherweise hatte man Gabeln neben ihre Stäbchen gelegt, und Reto bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, noch zu warten; auch das Essen war hier ein Ritual. Tief verneigte man sich vor den Speisen, und Michele sprach ein kurzes Gebet.
Dann hoben alle gleichzeitig die Reisschalen an die Unterlippe und schaufelten sich schlürfend und
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