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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Duft, der von den glitzernden Tropfen an den Stempeln herrühren mochte, versetzte den ganzen Park in die Schwebe. Die Süße lief ihr im Mund zusammen, und sie drängte sich an ihren Mann, der den Gärtner beim Zählen der Lilien filmte; ihr Hotel war ganz in der Nähe. Aber David hatte plötzlich Lust auf ein deutsches Bier. Es gab einen kleinen Paulaner-Stand.
    Und Frau Tayô bekam Rosen. Dabei war die doch einfach nur gewieft. Fast immer freundlich, immer lächelnd, blieb sie bei allen Gruppenaufnahmen feierlich ernst – was sie sogleich zur augenfälligsten Erscheinung auf den Fotos machte. Die edel konturierten Lippen brauchten keine Schminke, das Haar noch keine Tönung, sie würde wahrscheinlich niemals dick werden, und jede ihrer Gesten war von so präziser Luftigkeit, dass man sich neben ihr fühlte wie ein Wesen mit Hufen. Und das sollte auch so sein. Ihre Miene jedenfalls, besonders wenn sich ihre Blicke während der Veranstaltungen scheinbar zufällig getroffen hatten, war ihr mehr als einmal nachsichtig oder gar mitleidig vorgekommen, als dächte sie: »Was kannst du schon machen? Wie willst du diesen Perlglanz kriegen? Kümmere dich nicht um meine tausend Schönheiten täglich. Beachte sie gar nicht. Sie meinen nicht dich.«
    Und wieder Kinhin . In der Reisetasche im Vorraum klingelte das Telefon, doch David schien ihren Blick nicht zu bemerken. Und wieder in den Lotussitz. Matte Lichter gingen an in dem abendlichen Garten, Energiesparlampen, die in den Steinlaternen steckten, und als Lew noch einmal aufstand, um ihre Haltung zu korrigieren – er drückte ihr ein Knie ins Kreuz und zog die Schultern zurück –, stöhnte sie auf. Mittlerweile schmerzte jedes Gelenk, und erneut fiel ihr die Stunde des Abschieds ein, die scheinbar beiläufige und darum nur giftiger nachklingende Erkundigung der Japanerin.
    Man hatte Visitenkarten und kleine Präsente getauscht und ein letztes Glas Champagner an der Hotelbar getrunken, und natürlich war der sonst so taktvollen und stilsicheren Frau Tayô die Ungehörigkeit ihrer Neugier bewusst gewesen. Aber darauf kam es wohl nicht mehr an. Ihre Milde voraussetzend, hatte sie sich lächelnd in der Naivität einer Kulturfremden versteckt, und Marisa war einmal mehr über sich selbst verärgert gewesen. Immer noch, wenn diese Frage auftauchte, wurde sie verlegen wie ein Mädchen und möglicherweise sogar rot. Immer noch zitterten dann die Lider. Warum sie eigentlich keine Kinder hätten ...
    Ein Schatten huschte durch den Raum, und sie fuhr zusammen, sah sich um. Gegen die Glastür im Nebenzimmer, dem Büro des Roshi, war ein krähenartiger Vogel geflogen, ein Jäger ohne Glück, wie es schien. Das nasse Gefieder zerzaust, hüpfte er mit deutlich verärgertem Krächzen von der Veranda in den Garten; ein Flügel schleifte über das Moos. Doch die Mönche waren reglos geblieben, keiner hatte auch nur eine Wimper gerührt, und sie atmete tief, senkte den Blick und setzte sich wieder in die korrekte Haltung.
    Neben den Knieschmerzen hatte sie nun auch noch Hunger, wie immer um diese Zeit, ihr Magen knurrte peinlich laut. Und doch: Der Ernst der Meditierenden, ihre vor Konzentration oder Andacht fast finsteren Gesichter, die den Eindruck vermittelten, hier würde mit aller Kraft und Entschiedenheit am wahrhaftigsten Augenblick des Tages gearbeitet, ließen schon den Wunsch, das Ganze abzubrechen und aus dem Raum zu humpeln, armselig erscheinen. Es wäre etwas für immer Falsches, dachte sie – und wunderte sich zugleich über diesen Gedanken.
    Eine weitere Stunde verging, und es kühlte nicht ab. Die Glastüren beschlugen, der Hosenstoff wurde nass im Schritt, und um sich abzulenken von allen Misslichkeiten, begann sie, ihre Atemzüge zu zählen, was ihr ohne Fehler höchstens bis zum fünften oder sechsten gelang. Und möglicherweise schlief sie dann doch einmal ein. Denn als Lew plötzlich auf die Silberglocke schlug und damit das Zazen beendete, kam ihr der unendlich zarte, lange nicht enden wollende Ton wie etwas Lebendiges vor, wie die Seele jener Libelle, festgezaubert in der Luft.
    Rasch erhoben sich die Mönche, verneigten sich voreinander und gingen aus dem Raum. David dagegen, eine Hand auf den Lendenwirbeln, das Gesicht verzerrt, ächzte leise und fand nur mit Mühe von seinem Kissen, und auch Marisa musste sich an der Wand festhalten, bis das taube Gefühl in den Beinen vorüber war. Sie folgte den anderen in die Küche, wo allerdings nichts gekocht wurde, nicht

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