Shakespeares Hühner
Whiskys unbändig lachend, kreischend fast, schmissen die Professoren einander die Brillen in die Biergläser, knoteten sich die Krawatten zusammen oder rutschten auf den Knien vor Frau Tayô herum. Einer küsste sogar ihre Schuhe, teure Highheels mit roten Sohlen.
»Wir sind ein Volk von Masochisten«, hatte die ihr ins Ohr geflüstert und es doch genossen. Ende zwanzig war sie, und in dem Alter lebten die meisten Japanerinnen längst in winzigen Häusern am Stadtrand, wo sie die üblichen zwei Kinder für irgendwelche Eliteschulen trimmten, während ihre Männer, in der Regel vierzehn bis sechzehn Stunden im Dienst, nur noch zum Schlafen heimkamen; fast alle hatten Geliebte. Frau Tayô, die stets so zart gewebte Strümpfe trug, dass man sie erst auf den zweiten Blick als Netzstrümpfe erkannte, war jedoch nicht verheiratet. Frau Tayô wartete.
Regen, ein leises Geriesel, schraffierte die Stille. Obwohl vermutlich sehr alt, reichten die Gartenbäume kaum bis zur Traufe des Tempels. Die oft stark geneigten oder verdrehten Stämme sahen aus, als walte auch in ihnen eine Lust an der Zucht, an Selbstüberwindung. Ihre armdicken Äste bogen sich nach einem kurzen Aufschwung wieder zum Boden, und sogar in den nassen Blättern glaubte Marisa die zurückgestaute Kraft zu erkennen. Denn obwohl der Wind stärker geworden war – er zerwühlte das Unkraut am Rand des Gartens –, rührten sich ihre Spitzen kaum.
Das Kinn erhoben, die flache Ledermappe mit den Terminen des Tages unterm Arm, hatte Frau Tayô jeden Morgen vor derselben Säule in der Hotelhalle gestanden, eine elegante Erscheinung in ihren blauen Kostümen, das ließ sich nicht leugnen, und traten sie dann aus dem Lift, ruhte ihr Blick immer einen winzigen Moment länger auf David als auf Marisa. Möglicherweise war ihr das nicht bewusst, aber in den Augen der Japanerin gab es diese samtene Nachsicht, mit der eine Frau den Mann ansieht, der in näheren Betracht kommt und dem sie demnächst einmal die richtige Garderobe beizubringen gedenkt, das passende Accessoire. Sie selbst, als sie noch Wissenschaftliche Assistentin an der FU gewesen war, hatte ihn oft so angesehen.
Mit einem Knochen, gut ellenlang, schlug Lew auf eine hohle Holzkugel, rasch aufeinanderfolgende, immer lauter werdende Töne. Ungefähr jede Stunde hatte man sich zu erheben und vom Podest zu treten zum sogenannten Kinhin . Das war eine Meditation im Gehen, bei der man die rechte Hand um die linke Faust legte, die Unterarme waagerecht vor der Brust hielt und den jeweils vorgestellten Fuß ganz langsam von der Ferse zu den Zehen abrollte. Auch dabei wurde tief ein- und lange ausgeatmet, und waren die vier Wände auf diese Weise abgeschritten, fühlten sich die schmerzenden Beine erfrischt an, und man sank wieder in den Lotussitz.
Es regnete heftiger, das Licht veränderte sich. In den Reisfeldern begannen Frösche zu quaken, und sie musterte eine Weile ihre Silhouette in der Scheibe. Es stimmte, sie war schon schlanker gewesen, straffer auch; in der letzten Zeit hatte sich kaum noch jemand zu ihren Gunsten verschätzt, das Alter betreffend. Frau Tayô dagegen, obwohl nur wenig kleiner als sie, strahlte manchmal etwas Mädchenhaftes aus. Die Stirn glatt, die Augen immer klar, hatte sie markante Jochbeine, sanft eingefallene Wangen und nicht den Hauch eines Härchens im Gesicht. Aber ihre servile Scheu, die den Professoren so gefiel, war nur eine vorgetäuschte, und ihr Schweigen konnte messerscharf sein. Sie hatte über Robert Musil promoviert, über den Begriff der Dummheit in den späten Essays.
Die Zeit zog sich, die Luft im Raum wurde schal. David atmete auf jene Art, die ihr verriet, dass er gleich einschlafen würde, und auch sie schloss kurz einmal die Lider. Doch das schien Lew, der auf einem höheren Podest im Rücken der Meditierenden saß, nicht zu entgehen. Er klatschte in die Hände und mahnte mehr Konzentration und eine innigere Körperspannung an, und einen Moment lang glaubte sie, die Schwingungen seiner Stimme im Nacken zu spüren. Und als plötzlich ein Feuerzeug klickte und das belebende Aroma eines Räucherstäbchens zu ihr herüberwehte, musste sie an Tokio denken, an den jungen Gärtner im Ueno-Park.
In rührendem Englisch hatte er ihr ein Kompliment über ihre blonden Haare gemacht und war dann, eine Zähluhr in der Faust, zum Seeufer hinuntergegangen. Unmengen von Wasserlilien wuchsen dort, blaue Gebilde auf hüfthohem Stiel, weit die Blütenblätter spreizend, und ihr
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