Shakespeares Hühner
Tier wie von einer Sprungfeder bewegt zur Seite. Eine Sekunde lang sahen sie die abgespreizten Beine in der Luft, und dann war es auch schon in dem kleinen Teich verschwunden, staubigem Wasser, in dem sich das Pagodendach des Klosters spiegelte.
Der Ton des Glöckchens verklang, und die ländliche Stille schien noch zuzunehmen, während sie warteten. Elf Uhr am Morgen war es und bereits sehr schwül, die Reisfelder rochen brackig. Mückenschwärme zogen wie Rauch darüber hin. Eine Schiebetür wurde aufgestoßen, ein junger Mönch mit einer randlosen Brille winkte ihnen zu. Sein blauer Anzug erinnerte an die Mechaniker-Monturen in Europa, und er trat über die Schwelle, um sie auf die klassische japanische Art zu begrüßen: die Hände flach auf den Oberschenkeln, verneigte er sich gemessen, wobei er ihnen in die Augen sah. Und dann lächelte er breit und ließ ein eidgenössisches »Grüezi!« hören.
Reto hieß er und kam aus dem Bergell. Er brachte ihr Gepäck in einen Vorraum und bat sie, die Schuhe auszuziehen. Es roch nach Zimt, und die Reisstrohmatten knisterten leise unter den Füßen. Wie Frau Tayô ihnen gesagt hatte, war es ein kleines Kloster, kaum mehr als eine Eremitage. Fünf Mönche lebten hier und wurden von den Bauern der umliegenden Dörfer versorgt, weil sie, so der allgemeine Glaube, die Verbindung zu den Toten aufrechterhielten.
Durch die offenen Fenster der Meditationshalle konnte man in den schattigen, von Kieswegen durchkreuzten Garten sehen, und David stutzte, als auch die anderen Bewohner herbeikamen, um sie zu begrüßen: Kein einziger Japaner war darunter, nicht einmal ein Asiat; der Roshi reiste gerade durch Amerika. Alle waren kahl geschoren und sehr hager; die oft geflickten Drillichanzüge schlotterten um ihre Körper, und sie schienen ehrlich erfreut zu sein über die Abwechslung, die dieser Besuch für sie bedeutete. Sechs Stunden hatten sie schon meditiert.
Sie führten die beiden auf die Veranda, wo es Tee und Kekse gab. Auf dem niedrigen Tisch lag sogar ein Päckchen Tabak, und man hockte sich auf bunt bestickte Kissen und machte einander bekannt. Reto, ein Japanologie-Student, lebte seit zwei Jahren im Kloster und erledigte seine Seminar- und Examensarbeiten am Computer. Lew und Nikolai, ukrainische Ingenieure um die dreißig, hatten während ihres Katastrophen-Einsatzes in Kobe einen Vortrag des Roshi gehört und sich von heute auf morgen für den Mönchsweg entschieden. Und der ebenfalls noch junge Michele, ein Priester aus Florenz, war irgendwann den Zölibat und die starre Dogmatik des Vatikans leid gewesen. Seine japanische Frau und ihr Kind wohnten in Kyoto, und sie sahen einander alle vierzehn Tage.
Die Kekse aus der Plastikdose waren fast geschmacklos und recht hart; man trank zu jedem Bissen etwas Tee, einen Aufguss aus schon einmal überbrühten Blättern. Dann gab es noch eine getrocknete Aprikose, und schließlich blickte Lew auf die Uhr und teilte ihnen die Arbeiten der nächsten Stunde zu. Die Mönche hatten sich um den Gemüsegarten auf der anderen Straßenseite zu kümmern, Marisa sollte bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen helfen und David die Toiletten putzen – eine Order, die dieser mit ironischem Grinsen und einer demütigen Neigung des Kopfes entgegennahm. Auch seine Frau musste lächeln. Doch als sie sagte, er habe es ja nicht anders gewollt und solle nur nicht wieder die Unterseite der Klobrille vergessen, musterte Lew sie kalt und zischte: »From now on: Don’t talk!«
Reto führte sie in die Wäschekammer, wühlte in einer Truhe und reichte ihnen zwei Arbeitsanzüge. Dabei rieselten schwarze Krümel aus den Hosenbeinen und Taschen, und er zog bedauernd die Schultern hoch; es gab hier viele Mäuse. Nun bemerkte Marisa auch den säuerlichen Geruch in dem Stoff, und kaum hatte sie die blassblaue Jacke zugeknöpft, fing ihr ganzer Körper an zu jucken. Aber vielleicht war das Einbildung, denn David schien sich wohl zu fühlen in seiner Kluft, trotz der ausgefransten Ärmel. Er stieß sie mit dem Ellbogen an. »Und jetzt schrubb ich die Klos, bis ich erleuchtet bin.«
Auch in der Küche ging es zunächst um Hygiene. Lew, der eine Schürze mit Blumenmuster trug, wies auf einen Hocker am Tisch und goss einen Messbecher voll Naturreis auf ein großes Tablett. Das bewegte er so lange hin und her, bis die Körner dicht an dicht in einer Lage auf dem Holz verteilt waren: eine graugoldene Fläche, in der die unzähligen Mäusekötel wie Löcher
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