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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Morgenmantel und trocknete sich die Haare, die an den Spitzen feucht geworden waren, und möglicherweise hatte sie ihn nicht verstanden. Jedenfalls sagte sie: »Du kannst ruhig rauchen, wenn du willst«, drehte das Radio leiser und stellte einen Unterteller auf den Tisch. Dann dimmte sie das Licht, und nachdem sie noch einmal Wein in ihr Glas gegossen hatte, legte sie sich auf die Couch, auf einen Haufen bunter Kissen. Dabei hielt sie den Frotteestoff über den Schenkeln zusammen.
    Oswald steckte sich eine Zigarette an, und lange sprachen sie nichts und vermieden es, einander in die Augen zu sehen; eine seltsame Scham schien sie zu lähmen. Als müsste der Zeit, die sie durch ihren beherzten Schritt übersprungen hatten, die Gelegenheit gegeben werden, langsam wieder in den Raum zu finden, starrten sie auf das Flämmchen der Kerze und hörten der Musik zu. Es war ein Violinkonzert, das Jana offenbar gut kannte. Sie summte den Schluss mit, und nach den Abendnachrichten, den Meldungen von Tornados in den USA, Erdbeben in Neuseeland und einem Ministerrücktritt in Berlin, lockerte sie ihren Gürtel, den flauschigen Knoten, trommelte mit den Fingerkuppen gegen das Glas und fragte: »Wie sieht’s eigentlich aus, großer Mann? Redest du manchmal?«
    Er stieß etwas Luft durch die Nase, wischte über seine Glatze und trank einen Schluck von dem kalten Bier. Dann pulte er an dem Flaschenetikett herum, kratzte das Silberne von der Schrift. »Viel los da draußen, oder? Muss Vollmond sein.«
    Sie zog die Brauen zusammen, blickte zum Fenster. »Ach ja? Wie kannst du das wissen? Der Himmel ist schwarz.«
    Kopfschüttelnd wies er auf das Radio. »Man hört es jeden Monat in den Verkehrsmeldungen«, sagte er. »Immer wenn sich Tiere auf der Fahrbahn befinden, Rehe, Schafe oder Pferde. Der Mond macht sie unruhig, trotz der Wolken. Und dann verlassen sie ihre Verstecke oder setzen über Zäune und Planken und bringen alles durcheinander. Wegen der Liebe ...«
    Jana hob das Kinn. Die Haare, die sie sich aus der Stirn strich, fielen fächerartig wieder vor; ein heiteres Erstaunen verjüngte ihr Gesicht. Die Stelle am Mundwinkel mit der Zunge betastend, streckte sie ein Bein aus und drückte die Zehen gegen sein Knie, sehr sanft. Der Frotteestoff verrutschte über den Oberschenkeln; die Haut dort war noch so braun wie vor Wochen und schimmerte von dem Badeöl. »Ich glaube, du bist gut, oder? Du bist richtig stark.« Und als er nichts sagte, nur mit den Schultern zuckte, stellte sie das Glas auf den Boden und beharrte: »Doch, das bist du. Komm, trag mich ins Bett.«
    Heiser hatte ihre Stimme bei den letzten Worten geklungen. Die Wangen gerötet, schloss sie die Lider, und Oswald zog noch einmal von der Zigarette und blies mit dem Rauch die Kerze aus. Dann stand er auf, rückte einen Sessel zur Seite, wischte die Finger am Pullover ab und schob die Arme unter die Frau. Ihre Halsader schlug sehr schnell.
    Er räusperte sich, schluckte. Irgend etwas umklammerte seine Brust, nahm ihm die Luft und löste sich erst, als er Jana anhob – schwungvoller als beabsichtigt. Viel leichter erschien sie ihm als alles, was er sonst zu tragen hatte, leichter sogar als die Kinder, auch wenn das natürlich nicht stimmen konnte. Ein Duft nach Zitronengras ging von ihr aus, nach Mandeln und Wein, und während er sie ins Schlafzimmer brachte – sie hielt seinen Nacken umschlungen und rieb, als könnte sie es nicht erwarten, die Füße gegeneinander –, wühlte er das Gesicht in ihre Haare, um sich die Augen zu trocknen.
    »Was ist?«, flüsterte sie, doch er antwortete nicht. Er drückte mit dem Ellbogen auf den Lichtschalter und legte sie vorsichtig ins Bett. Immer noch flackerte Feuer im Park, und unter dem Fenster schrie eine Katze.

Der Hunger der Vergesslichkeit
    M eine alte Tante lebte allein in der Nähe des Goldmannparks in Berlin-Friedrichshagen, in einem einstöckigen Biedermeierhaus, dessen Wintergarten sie als Voliere nutzte, und es war gewöhnlich so menschenleer in der abgeschiedenen Straße, dass die unaufhörlich zwitschernden Sittiche und Grünfinken jäh verstummten, wenn doch einmal jemand an den Zaun trat.
    Nachdem ich sowohl den Vorsitz der Planungsabteilung als auch die Prokura verloren hatte, wurde ich von Düsseldorf an die Spree beordert, um die Bauleitung am Adlergestell zu übernehmen, und die Firma ließ mir freundlicherweise die Wahl, entweder zusammen mit den Arbeitern in der Containersiedlung zu hausen oder mir ein

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