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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Haaren lag; die große Hornbrille mit den deutlich abgeteilten Lesefenstern setzte dem Gesicht ein paar ernste Halbschatten auf, und auch sein schmallippiger, an einem Winkel tief herabgezogener Mund war wie ein Schrägstrich durch die Vorstellung, er könnte je einen Hauch von Humor gehabt haben. Aber vermutlich überschätzt man die emotionale oder historische Tiefe solcher Mienen; oft sind sie nur Ausdruck des gichtigen Alters oder schlecht sitzender Zähne.
    Meiner Tante zufolge war Herr Dr. Wagner bis zur Wende ein leitender Beamter in der Außenhandelsmission der DDR gewesen, Einsatzschwerpunkt Südostasien, und vertrieb sich seine Pensionärszeit gerade damit, ein Buch über den Bezirk Köpenick zu schreiben, wozu auch Friedrichshagen gehört. Dabei legte er eine stählerne Disziplin an den Tag: Öffnete ich in der Frühe die Terrassentür und machte, noch in Shorts, ein paar Dehnübungen im Freien, hämmerte er bereits mit beiden Zeigefingern auf der Tastatur seiner »Optima« herum, dass es nur so krachte. Und wenn ich vor dem Schlafengehen um Mitternacht einen letzten Blick auf die Spreemündung und den Müggelsee warf, hockte er immer noch am Schreibtisch und las mit einer Lupe, und nur die senkrechten Falten zwischen den Augenbrauen waren etwas tiefer als am Morgen.
    Er reagierte übrigens nie, wenn ich lächelte oder die Hand hob zum nachbarschaftlichen Gruß; er schien durch mich hindurchzusehen, und erst nach und nach bildete ich mir ein, dass er dem Senken des Kopfes einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Heber folgen ließ – der aber auch eine Korrektur der Blickrichtung bedeuten konnte, weil er sich in der Zeile geirrt hatte. Doch ich beschloss, es für ein Nicken zu halten.
    Was es wohl auch war. Als ich eines Morgens zu meinem Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging – einem dunkelgrünen, gut zehn Jahre alten Bentley Arnage, dem letzten Souvenir aus besseren Tagen –, stand er davor und blickte neugierig durch die Fenster. Er trug ein Sakko mit Ellbogenschonern, und war offenbar auf dem Weg in den Supermarkt, hielt er doch einen jener stumm gemusterten Stoffbeutel in der Hand, die man hier zum Einkaufen benutzte. Vorsorglich klingelte ich mit dem Schlüsselbund.
    Dennoch schien ihn meine Silhouette in der Scheibe zu erschrecken; er lächelte verlegen, wobei sich das helle Blau der Augen einen Pulsschlag lang verdunkelte. »Schönes Stück«, sagte er und ordnete die Haare an seinem Hinterkopf. »Eine Wertanlage. Die fabrizieren auch Waffen und Panzermotoren, nicht wahr? Aber Sie sollten die Sitze besser pflegen. Ist das nicht Straußenleder?«
    Ich gab ihm die Hand. »Nein, nein«, sagte ich, »ganz gewöhnliche Ziege. Außerdem mag ich die Spuren der Zeit. Und solange die Anwälte meiner Exfrau noch nicht entschieden haben, ob ich den Wagen behalten darf, wird nicht mal der Aschenbecher geleert.«
    Wie viele Alte in dieser Gegend roch er stark nach Kernseife, und gemessen an seiner Zartheit hatte er bemerkenswerte Hände. Blass waren sie, weich und nicht mehr sehr kraftvoll, klar, aber ihre Größe hätte einem Betonbauer Ehre gemacht. »Sie rauchen doch gar nicht«, sagte er schmunzelnd.
    Er stellte sich mit Doktortitel vor, was ich eigentlich geschmacklos und ein bisschen hochstaplerisch finde; ich denke dann immer an die Kindheit, an unsere Sheriffsterne aus Stroh. Doch als ich fragte, in welchem Fachbereich er promoviert habe, war das offenbar schon zu indiskret oder gar aufdringlich; wie um mir Zeit zu geben, das einzusehen, starrte er einen Moment lang auf seine billigen Schuhe, und ich bemerkte, dass er keine Socken trug. Schließlich machte er eine wegwerfende Geste: »Ach, vergessen wir’s. Das war im vorigen Leben.«
    Dann fragte er mich, wie es mir in Berlin gefalle, besonders in Friedrichshagen, das er »unser Fritzendorf« nannte. Ich wohnte gern in diesem Bezirk, in dem man das Bettzeug zum Lüften aus dem Fenster hängte, ich mochte die Ziergitter und das Feldsteinpflaster überall, die Parks voller alter, oft riesiger Bäume, den unverbauten See, doch er strich mit den Fingerkuppen über den Kühler und schüttelte den Kopf. »Sie können ruhig die Wahrheit sagen ... Ich find’s manchmal auch zu piefig hier, zu kleinkariert und ohne Geist. Aber die Wege sind kurz, und man kennt seine Pappenheimer. Im Alter hat das Vorzüge.«
    Damit wollte er wohl andeuten, dass auch ich nicht mehr der Jüngste war; jedenfalls zwinkerte er mir zu. Er zeigte sich übrigens erstaunlich

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