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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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billiges Pensionszimmer in Köpenick zu mieten. Davon abgesehen, dass die Leute sich nicht noch am Feierabend kontrolliert fühlen sollten: Wer einmal versucht hat, nach zwölf Stunden Plackerei in Schlamm und Staub zur Ruhe zu kommen in so einem Containerheim, in dem das Wasser im Glas auf dem Schreibtisch zittert, sobald jemand durchs Nebenzimmer geht, und die Radios in einem Dutzend verschiedener Sprachen plärren; wer in seinem durchhängenden Bett liegt und nichts will als schlafen, während er gezwungen ist, dem endlosen Aufklatschen der Karten hinter den Blechwänden, dem Keifen der billigen, zusammen mit der Pizza bestellten Nutten auf den Fluren, dem Urinieren in Milchtüten, die dann aus dem Fenster fliegen, und dem Furzen und Rülpsen bis weit nach Mitternacht zuzuhören, dem ist früher oder später sogar ein einsames Zelt an der Kanalböschung recht. Also entschied ich mich für die Pension.
    Dort wohnte man immerhin ungestörter. Doch das verwinkelte Zimmer mit dem Kleiderschrank voller Drahtbügel und dem obskur gemusterten Teppich wurde selten aufgeräumt, die Staubmäuse unter den Möbeln waren fast Ratten, und der Duschstrahl hatte keinen Druck. Im Kühlschrank der Teeküche blühte schwarzgrüner Schimmel, und der Besitzer oder Pächter, der eine Deutschlandfahne über das Schlüsselbrett gehängt hatte und aussah, als würde sein Haarschnitt für ihn denken, der scharf rasierte Nacken, hörte sich meine Klagen zwar an, änderte aber nichts. Sogar das Bett musste ich selbst beziehen, und als ich dabei ein gebrauchtes Ohropax-Kügelchen unter der Matratze fand und es mit spitzen Fingern auf seinen Tresen legte, sagte er nur: »Das kann nicht von uns sein. Hier ist es absolut still.«
    Also sprach ich Tante Else an. Sie war die jüngste Schwester meiner Mutter und nach der Scheidung der Großeltern in der damaligen DDR geblieben – aus »Liebesgründen«, wie sie oft betonte. Die Wohnung im ersten Stock ihres Hauses hatte sie vermietet, aber es gab noch eine ausgebaute Remise im Garten, das ehemalige Arbeitszimmer ihres Mannes, eines vor zwei Jahren verstorbenen, mir nur von Fotos bekannten Ornithologie-Professors, und ich drückte etwas Schlagsahne aus der Spraydose auf meinen Kuchen und sah zu spät, dass sie nicht mehr haltbar war, seit Wochen.
    Meine fromme Tante, zahlendes Mitglied irgendeiner apostolischen Gemeinde, betete vor jeder Mahlzeit und veranstaltete Bibelstunden, und meine Degradierung in der Firma in einem Alter, in dem andere die Geschäftsleitung übernehmen, die Zwangsversteigerung unserer Villa, die Scheidung von Helene und die Drogenprobleme unserer Tochter waren sicher nicht das, was sie seriöse Lebensumstände nennen würde; nachdenklich fütterte sie die Vögel. Aber dass ich ihren Tee und ihren Blechkuchen mochte, gelegentlich für sie einkaufte und hier und da eine Glühbirne ausgetauscht hatte, verbuchte sie wohl auf meiner Habenseite, und ich kratzte die Sahne von dem Kuchenstück und folgte ihr kauend in den Garten. Das ist eins dieser traurigen Dinge in den Haushalten alter Leute: das Haltbarkeitsdatum ist meistens überschritten.
    Die Betonplatten auf dem Weg zur Remise waren rissig und vermoost. Mein neues, hinter Hortensien gelegenes Domizil hatte ein hohes Zimmer mit Rundbogenfenstern und weiß geschlämmten Wänden, an denen ein verstaubtes Klavier, ein Ledersofa und mehrere Schränke voller Bücher standen; auch der eine oder andere Band der dunkelblauen Klassiker war darunter. Es gab eine passable Küchenzeile mit Campingtisch, und über eine Wendeltreppe kam man auf die knarrende Empore, unter den Winkel, wo ich mir schon bei der Besichtigung den Kopf stieß. Dort war gerade Raum für ein breiteres Bett, denn mein Onkel hatte die Hälfte des Pultdaches abgetragen und eine Terrasse daraus gemacht, mit Sonnensegel und gemauertem Grill – ein idealer Platz für ein Bier am Feierabend, sofern man den Mückenschutz nicht vergaß. Über Dächer und Gärten ging der Blick bis zum See, seinen waldigen Ufern, wo sich nachts die Wildschweine suhlten und an den Wochenenden die Feuer der Jugend brannten.
    Außerdem befand ich mich hier auf gleicher Höhe mit der Einliegerwohnung im Vorderhaus und konnte den Mieter meiner Tante fast täglich an seinem Schreibtisch sehen. Ein hagerer Mann Mitte siebzig, trug er meistens Wollwesten oder ärmellose Pullover, und der Kragenknopf seiner Hemden war stets geschlossen. Eine seltsam graue Aura umgab ihn, was nicht nur an den

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