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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Blutsbruder, wenn du willst. Aber setz dich wieder auf den Stuhl, ja? Am Ende denken die ... Ich meine ...«
    Er ließ seine Zigarette fallen, griff in die Herztasche und hielt ein Stück Papier in die Höhe. »Schau her, ich hab dir auch was mitgebracht. Unser Gedicht ist fertig!«
    Doch der Junge, dem Tränen vom Kinn tropften, beachtete es nicht. Er seufzte zittrig und wischte sich die Augen mit den Handballen aus. Dann ging er um den Stuhl herum, trat vorsichtig auf die Glut und steckte die Kippe ein. »Welches Gedicht?«
    Oswald drehte an einem Schalter neben der Bürotür; eine insektenverklebte, von Spinnweben wie von Schleiern verhängte Lampe flackerte auf. »Ich hab’s erst mal ›Maus-Blues‹ genannt«, sagte er. »Du kannst den Titel ja noch ändern.«
    Die Arme vor der Brust verschränkt, sah ihn das Kind erwartungsvoll an, und er entfaltete das Blatt, setzte sich aufrechter hin und las mit gespielt dunkler Stimme: »Maus, wo ist dein Schwanz?« Um gleich darauf so hoch, wie es ihm möglich war, zu erwidern: »Ich verlor ihn wohl beim Tanz.« Und abermals dunkler, mit theatralisch gewölbten Brauen: »Maus, wo hast du deine Krallen? / Ach, sie sind mir abgefallen. / Und die Ohren? / Auch verloren. / Und die Nase? / Liegt im Grase. / Und dein helles Augenlicht? / Keine Ahnung, seh es nicht. / Maus, du hattest doch mal Zähne! / Na, nun hab ich eben keene. / Und wer hat dein graues Fell?«
    Das Kind trat näher, wollte etwas sagen, doch Oswald hob eine Hand und schloss betrübt: »Man verliert es schnell, so schnell: / Plötzlich spürt man eine Tatze, / wird verschluckt und ist schon Katze.«
    Der Junge, den Mund geöffnet, starrte einen Moment lang vor sich hin, wobei sein Blick etwas Traumverlorenes hatte; nur schwer schien er sich von den inneren Bildern lösen zu können. Im Haus wurden die Fenster geschlossen, ein Möbelauto rollte aus der Einfahrt, und er ignorierte das Rufen seiner Mutter und bewegte die Lippen, als wiederholte er das Gedicht noch einmal still. Dann klatschte er in die Hände, reckte beide Fäuste in die Höhe, und aufatmend reichte Oswald ihm das Blatt.
    »Mann, das war vielleicht ’ne Arbeit!« Er löschte das Terrassenlicht und klopfte eine neue Zigarette aus dem Päckchen. »Die Reime kriegt man schon irgendwie hin, die sind leicht. Aber es muss ja auch Sinn haben und sich gut anhören, oder? Immer hatte ich ein Wort zu viel oder zu wenig. Manchmal auch nur eine Silbe. Das war kniffliger als Kreuzworträtsel!«
    Der zweite Wagen fuhr davon. Vincent faltete das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche. »Es ist super!«, sagte er und ging zu seinem Rad. »Wir sind ein richtig gutes Team. Ich werde es meinen Eltern zeigen, vielleicht können sie es ja drucken lassen. Du bekommst natürlich die Hälfte vom Honorar, und wegen der Nebenrechte müssen wir noch reden.« Er polierte den Klingeldeckel mit einem Zipfel seines Shirts. »Aber weißt du was? Den Schluss hab ich nicht richtig verstanden ... Die Maus ist doch tot; sie hat eins mit der Tatze gekriegt, oder? Wieso ist sie dann Katze?«
    Oswald schob sich die Zigarette hinters Ohr und half ihm, das Bike über den Zaun zu heben. »Na ja, im Gedicht kann man das machen ... Sie wird halt verdaut. Ich meine, wenn du ein Kotelett isst oder ein Hühnchen, verwandelt es sich auch. Es gibt dir Kraft und lässt dich wachsen. Es wird zu Vincent.«
    »Echt? Cool«, sagte der und blickte sich um; zwei Finger im Mund, hatte sein Vater einen Pfiff ausgestoßen. »Wir sind aber Vegetarier. Ich darf so was nicht essen.« Dann bückte er sich, schlüpfte auf die andere Seite, und rasch – damit er sich nicht an den Zaunlatten stieß – hielt ihm Oswald eine Hand über den Kopf.
    In der Villa erloschen die Lichter, die Westfenster spiegelten die letzten Schlieren Abendrot, und hinter sich hörte er das Geräusch, das immer entstand, wenn ein neues, den abschüssigen Gang hinunterrollendes Bett gegen die Stahltür schlug, ein stumpfes »Tock«. Etwas flog über den Baumkronen durch die Dämmerung, und man wusste nicht, ob es noch Schwalben oder schon Fledermäuse waren. Der Junge setzte sich auf sein Rad. »Also, mach’s gut. Ich muss nach Australien.«
    Die Unterlippe vorgeschoben, hob er eine Faust, und Oswald stieß mit seiner dagegen. »Okay, Gangster, pass auf dich auf«, sagte er heiser. »Die Sonne da unten ist nicht ohne. Hab ich jedenfalls gelesen. Es gibt Hosen mit Lichtschutz. Und schreib mir mal ein Liebesgedicht.«
    Lachend trat

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