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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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der Kleine in die Pedale. Die Reflektoren an den Speichen schimmerten matt, und die Gangschaltung knackte, während er sich, tief über den Lenker geneigt, die Steigung hinaufmühte. Dabei ächzte er übertrieben. Doch plötzlich blieb er stehen, stemmte die dünnen Beine ins Gras und drehte sich in der Hüfte. »He, Onkel Gabi! Was ich dich noch fragen wollte: Weißt du, warum Bienen summen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, legte er beide Hände wie ein Sprachrohr um den Mund und flüsterte laut: »Weil sie den Text vergessen haben!«
    Oswald grinste, winkte, setzte sich wieder auf den Stuhl. Er zündete die Zigarette an und blickte durch den verschwebenden Rauch zu der Villa, wo die Frau gerade die Tür abschloss und der Mann irgend etwas im Kofferraum des Jeeps verstaute. Als das Innenlicht anging, sah er noch einmal Vincents Schopf hinter der Scheibe, sein blasses Gesicht.
    Der Motor des großen Wagens klang leiser als das Knirschen der Kiesel unter den Rädern, die Scheinwerfer streiften den Krankenhausangestellten, und dann war die Einfahrt plötzlich leer. Kühl wurde es in der Dunkelheit, erste Sterne funkelten am Himmel. Von Gebirgszügen und Kraterketten grau verschattet, stieg das halbe Mondrund über die Bäume, und lange noch glaubte er ihn in seiner leeren Hand zu spüren, den warmen Hinterkopf des Jungen.
    Nun wurde es immer früher dunkel. Fast alle Menschen, mit Taschen und Beuteln bepackt, waren in Eile; die Läden würden bald schließen. Die Buchhändlerinnen auf der anderen Straßenseite kurbelten die Markisen zurück, trugen den Fahrradständer hinters Haus und schoben Kisten voller Sonderangebote über eine Rampe in den Laden. Das Wort »Herbstlese« stand in Lettern aus Styropor zwischen den Bestsellern in den Schaufenstern, und die Bildschirme der Kassen waren bereits dem Bürgersteig zugedreht. Grüne Nullen blinkten darauf.
    Einen Becher Kaffee in der Hand, wartete Oswald unter einem Türbogen, den die Reklame eines Zahnlabors nur schwach beleuchtete, und nachdem die Frau sich von ihren Kolleginnen verabschiedet hatte, folgte er ihr in einigem Abstand durch die Fußgängerzone. Sie trug einen knielangen Trenchcoat; ihre schwarzen, knapp über der Schulter abgeschnittenen Haare, mit einem Reif aus der Stirn geschoben, wippten bei jedem Schritt, und obwohl sie kleiner war als die meisten erwachsenen Passanten, hielt sie sich auf ihren spitzen Schuhen so, als wäre sie größer.
    Erste Laternen gingen an, und nach einigen Minuten bog sie in eine Passage voll künstlicher Bäume. Auch hier schloss man gerade die Geschäfte, eine Lautsprecherstimme unter der Kuppel bedankte sich für den Einkauf, und glitzernde Konfettisterne wurden über die Menschen geblasen und blieben auf Schultern und Hutkrempen liegen. Kinder lachten, Hunde kläfften, und die Scheiben der Drehtüren spiegelten die Herausgehenden als Hereinkommende wider. In dem kleinen, von schwarzen Wolken überschatteten Park auf der anderen Straßenseite wärmten sich Obdachlose vor einem Feuer, und als einer der Frau eine Pfanne hinhielt, warf sie ein paar Münzen auf das Blech.
    Es begann zu nieseln, ein Gefühl wie kalte Folie im Gesicht. Obwohl er Schuhe mit weichen Sohlen trug, folgte Oswald ihr neben dem Weg, auf dem falben Rasen. Sie bog in ein neu gebautes Wohncarré, und er beeilte sich, nah hinter ihr zu sein, als sie in den Schatten eines Hauseingangs trat. Erschrocken schnappte sie nach Luft, und da er das Straßenlicht verstellte, nahm er einen Moment lang kaum mehr von ihr wahr als das abgestandene, nach einem langen Werktag riechende Parfüm und den Schimmer in den großen Augen. Doch ihre Angst war so deutlich in dem Vorraum wie das Flackern hinter den Schildchen der Klingelanlage.
    Oswald trat einen Schritt zurück, zog das Basecap vom Kopf und nickte ihr zu, brachte aber kein Wort hervor. Zu Boden blickte er, auf den Gitterrost voller Kippen, und sie atmete hörbar aus, steckte den Schlüssel ins Schloss, und sagte: »Du liebes bisschen! Er nun wieder.« Dann drückte sie auf einen rot glühenden Schalter neben der Tür, und krachend ging das Flurlicht an. Vor der Treppe standen mehrere Kinderwagen. »Und jetzt, Kamerad? Was soll das hier werden?«
    Seine Mütze in die Parkatasche stopfend, zuckte Oswald mit den Achseln. »Weiß nicht ... Keine Ahnung«, murmelte er und schniefte leise. »Wollte nicht aufdringlich sein; war grad in der Gegend. Vielleicht könnte man mal einen Kaffee trinken? Oder was essen?

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