Shakespeares ruhelose Welt
England. Denn von nun an konnten englische Katholiken als unzuverlässige Untertanen betrachtet werden: Das Praktizieren des katholischen Glaubens grenzte gefährlich nahe an Landesverrat.
Der Stratford-Kelch wurde angefertigt, als man forciert auf religiöse Konformität drängte. Nun, nach einem Jahrzehnt schrittweiser protestantischer Anpassungen und Veränderungen, schien ein Rückschlag in Richtung Katholizismus sehr unwahrscheinlich geworden, also konnte man, so das politische Kalkül, die Reform verschärft vorantreiben. Dieser Kelch war – wie viele andere gleichartige auch – Element einer handfesten Propaganda; quer durch das Land, von Diözese zu Diözese wurden diese Kelche eingeführt. Sie folgten dem gleichen Vorbild: fein abgestimmt, wurde vom Erzbischof von Canterbury zentral eine neue, schlichtere protestantische Ästhetik verfügt. Die traditionellen, aufwändig gestalteten Kelche sollten verschwinden, weil sie mit ihrem reichen Zierrat den Riten der alten Messe allzu viel Ehre erwiesen.
So wurden, während Shakespeares Kindheit, die sichtbaren Zeichen des Katholizismus systematisch entfernt, und kaum einer in Stratford spielte eine größere Rolle in diesem Prozess als Williams Vater. John Shakespeare war Handschuhmacher, und in diesem Gewerbe, zumindest eine Zeitlang, recht erfolgreich. 1556 kaufte er ein Haus in Stratfords Henley Street, war damit Grundeigentümer und konnte in ein öffentliches Amt gewählt werden. Und tatsächlich bekleidete er zunehmend einflussreiche Positionen, war Ratsmitglied, zuletzt sogar «high bailiff», Bürgermeister. Als seine Karriere ihren Höhepunkt erreichte, gehörte die Eliminierung katholischer Objekte und Symbole zu seinen offiziellen Aufgaben.
Nur ein paar Straßen von Holy Trinity entfernt liegt Stratfords Gildhall, deren Kapelle ein anschauliches Beispiel dafür liefert, wie sehr die Welt sichänderte, als die Reformation sich tiefer in die Gesellschaft fraß. Im Inneren der Kapelle sehen wir heute Relikte eines großen Wandgemäldes des Jüngsten Gerichts. In der Mitte ein Kreuz; auf der einen Seite die himmlische Stadt, auf der anderen die Hölle. Jeder, der einmal in dieser Kapelle saß, wird gewusst haben, dass der Tag des Jüngsten Gerichts zu dem entscheidenden Moment seiner Existenz werden würde, zum Ziel seines spirituellen Lebens. Doch den Protestanten brachte man bei, Bilder dieser Art abzulehnen; und so ließ John Shakespeare 1564, im Jahr von Williams Geburt, die gesamte Darstellung des Gerichtstags weiß übermalen. Sie blieb für die nächsten 250 Jahre unsichtbar. Ein gewaltiger Teil der überkommenen, seit Jahrhunderten vertrauten spirituellen Landschaft wurde ausgelöscht. John Shakespeare war auch für die Entfernung des Lettners verantwortlich – der bis dahin wohl ein Kreuz getragen hatte (eine Skulptur der Kreuzigung). Und 1571, im gleichen Jahr, in dem der Kelch in Stratford ankam, ordnete er an, die farbigen Glasfenster der alten katholischen Kapelleim Gildenhaus durch Klarglas zu ersetzen – eine Szene der Zerstörung, die sein damals siebenjähriger Sohn durchaus miterlebt haben könnte. Eine Rückkehr zum Katholizismus war nun tatsächlich schwierig geworden.
Holy Trinity Church, Startford-upon-Avon – hier wurde Shakespeare getauft und – am 25. April 1616 – auch beerdigt. Seine Frau Anne liegt im gleichen Grab, auch sein Vater und sein Sohn wurden auf dem Kirchhof beerdigt.
Die Gildhall, Stratford-upon-Avon, in der John Shakespeare dem Rat der Stadt vorstand, wo William wiederum unentgeltlich die Grundschule im ersten Stock besuchen durfte und vermutlich auch zum ersten Mal Theaterstücke sah.
Die Gildhall von Stratford könnte auch der Ort gewesen sein, an dem der junge William sein erstes Schauspiel erlebt hat. Ihr Repertoire kennen wir nicht, doch mindestens dreizehn Schauspielerkompanien haben zwischen Shakespeares viertem und siebzehntem Lebensjahr dort gastiert. Gastspiele wandernder Theatertruppen fanden gewöhnlich im größten überdachten Saal statt, in Anwesenheit der Stadtoberen; also werden bei vielen Aufführungen auch John Shakespeare und seine Familie zugegen gewesen sein.
Das war die Umwelt, in der Shakespeare aufwuchs. Er hat, anders als seine Eltern, niemals eine lateinische Messe gehört. Er las Bibel und Gebetbuch, hörte Texte und Gebete in Englisch. Er trank den Abendmahlwein aus einem Gemeindekelch, und das in einer Kirche, aus der praktisch alle Bilder verdrängt worden waren. Doch
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