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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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auch in dieser protestantischen Umgebung, in der Kapelle der Stratforder Gildhall ebenso wie überall sonst in England,blieben Erinnerungen und Bilder des katholischen Glaubens weiterhin gegenwärtig, wirkmächtig auch unter der Tünche.
    Dazu sagt Eamon Duffy, Historiker an der Universität Cambridge:
«Der Übergang von den alten Gebräuchen zu einem neuen Gottesdienst wurde gewiss wahrgenommen, häufig auch als Diktat aus London. Manche Menschen waren begeistert, beispielsweise als es endlich eine englische Bibel gab. Viele erlebten das, buchstäblich, als Offenbarung, als Verstärkung des Glaubens. Andere hörten nur ermüdendes Kauderwelsch. Die Menschen brauchten Zeit, sich an das Neue zu gewöhnen, sodass wir, wenn wir diesen Kelch betrachten, zugleich eine ganze Kultur im Wandel sehen können; eine Kultur, die sich erst zurechtfinden muss.»
    Diesen schmerzlichen Übergang hat Shakespeare in seinen Stücken eingefangen, den Augenblick, in dem der Katholizismus, den seine Eltern praktiziert hatten, zu etwas wurde, von dem nurmehr in der Vergangenheitsform gesprochen wurde. 1600, als er Hamlet schrieb, musste man wohl um die fünfzig sein, um sich an eine Messe zu erinnern, die in einer englischen Gemeindekirche gefeiert wurde – doch wurden um 1600 nicht viele Menschen fünfzig Jahre alt. In Titus Andronicus wandert ein Soldat hinaus, um die zerfallenden Reste eines Klosters zu bestaunen. Und in einem der schönsten Verse seiner Sonette beschwört Shakespeare Klosterruinen herauf: als sichtbare Erinnerungen an die alte katholische Welt: «Verfallnen Chören gleich, wo einst die Vögel sangen.»
    Doch Shakespeare war, wie seinen Zeitgenossen auch, bewusst, dass die Wirklichkeit viel komplexer war. Wenn das Drama einsetzt, sind Hamlet und seine Studentenfreunde gerade von der Universität Wittenberg zurückgekehrt, aus der Stadt, in der Luther 1517 seine Thesen proklamiert hatte. Wie Shakespeares wird auch Hamlets Generation eingeholt von der neuen protestantischen Zukunft Nordeuropas. Von einer Zukunft allerdings, in der, wie uns Shakespeare zeigt, die Geister der Vergangenheit durchaus noch spuken, in England ebenso wie auf den Wällen von Schloss Elsinore.
«GEIST: Ich bin deines Vaters Geist:
Verdammt auf eine Zeitlang, nachts zu wandern,
Und tags gebannt, zu fasten in der Glut,
Bis die Verbrechen meiner Zeitlichkeit
Hinweggeläutert sind.»

    Das Jüngste Gericht, Wandgemälde in der Kapelle der Gildhall, Stratford-upon-Avon. Als Stadtrat war John Shakespeare verantwortlich für die Entfernung des Gemäldes: 1564 ließ er es für 2 Schilling aber nur übertünchen.
    Der Geist von Hamlets Vater spricht, wenn er erscheint, nicht die Sprache des Lutheranischen Protestantismus, sondern die ältere Sprache einer Seele, die im Fegefeuer leidet – eine Vorstellung, die die Protestanten vehement bestritten. Während des gesamten Stücks sprechen die Älteren zu den verwirrten Jüngeren in der Sprache eines aufgegebenen Glaubens. Mehrfach schwört Polonius bei der heiligen Messe. Die Gewohnheiten und Ängste der Vergangenheit wollten nicht vergehen. Man konnte den Katholizismus unterdrücken – austilgen wie das übermalte Weltgericht in Stratfords Gildhall –, beseitigt war er damit nicht. Nochmals Eamon Duffy:
«Als Shakespeare jung war, gab es die Alten noch, die den Rosenkranz beteten oder sich bekreuzigten, wenn es donnerte, und die Weihwasser sprengten. Katholische Glaubensinhalte blieben in dieser oder jener Form noch sehr lange lebendig, vor allem rund ums Sterben und Begraben.»
    Wie es aussieht, liefen die Dinge für John Shakespeare in den 1570er Jahren zunehmend schlechter; er bekam Schwierigkeiten wegen verbotener Geschäfte und Wucher. 1580 verpfändete er Grundbesitz, musste schließlich auch verkaufen, wurde zuletzt sogar wegen Schulden inhaftiert. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass er sich während seines zwanzigjährigen Aufstiegs an die Spitze Stratfords übernommen hat. Seine Zeit in öffentlichen Ämtern endete 1586: Er verlor seinen Sitz im Rat der Stadt, weil er dort bereits zehn Jahre lang nicht erschienen war. Der Abstieg setzte sich fort, 1592 gehörte John zu den neun Rekusanten der zu Stadt: Männern, die dem Gottesdienst fernblieben. John fürchtete, wegen seiner Schulden verhaftet zu werden, sobald er in der Öffentlichkeit auftauchte. Das wechselhafte Geschick seiner Familie könnte die Umsicht erklären, mit der Shakespeare die eigene Karriere vorantrieb: In London wohnte

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