Shakespeares ruhelose Welt
seine Fähigkeit, die Engländer gegen ihren Erzfeind zu einigen. Und in den späten Jahren von Elisabeths Regierungszeit befand sich England natürlich im Krieg, allerdings nicht gegen Frankreich, sondern gegen Spanien und in Irland. Der wichtigste Aspekt von Heinrichs Person und Charakter, auch der Mythen, die um ihn gesponnen wurden, war, dass er es fertiggebracht hatte, die Engländer im Krieg zu einigen.»
Das Grabmal Heinrichs V., über dem hoch oben mahnend Helm, Schild und Sattel hingen, war enorm beliebt. Viele der Zuschauer, die ins Theater kamen, um Shakespeares Heinrich V. zu sehen, werden auch die Grabinsignien in der Abteikirche besichtigt haben. Und sie wussten gewiss auch, dass diese an einen nie übertroffenen militärischen Triumph erinnerten, dazu an einen bewundernswürdigen König von seltener Bescheidenheit – denn für viele Besucher werden Schwert und Helm, die sie sahen, die gleichen gewesen sein, von denen die Rede ist, wenn Shakespeare zeigt, wie dieser König sich nach seiner siegreichen Rückkehr aus Frankreich geweigert hatte, pompös durch Londons Straßen zu paradieren:
Heinrich V., unbekannter Künstler, Ende 16., Anfang 17. Jahrhundert. Das heute bekannteste Portrait des Königs stammt also aus der Shakespearezeit.
Das Bronzesiegel von Heinrich, Prince of Wales (des späteren Heinrich V.), für die Lordschaft von Carmarthen, um 1410. Das Siegel zeigt den Prinz zu Pferd, umgeben von seinen Titeln: Prince of Wales, Herzog von Aquitanien, Lancaster und Cornwall, Graf von Chester und Lord von Carmarthen.
«CHORUS: So rasch ist des Gedankens Gang, daß ihr
Alsbald ihn auf Blackheath euch denken könnt,
Wo seine Lords begehren, daß er lasse
Sein [schartig] Schwert, den Helm voll Beulen
Sich durch die Stadt vortragen. Er verbietet’s,
Frei von ruhmred’gem Stolz und Eitelkeit,
Und gibt Trophäen, Siegeszeichen, Pomp
Ganz von sich weg an Gott.»
Heinrich V. ist das einzige Historienstück Shakespeares aus den 1580er Jahren, das von einem erfolgreichen König handelt und dessen Plot sich nicht um Verschwörungen und Revolte entwickelt. Heinrichs Regentschaft wird stattdessen beschrieben als ein praktisch ungetrübter Siegeszug, in dem die englische Streitmacht, obwohl deutlich unterlegen, ihren Gegner gleichwohl überwinden konnte. Dabei wird der König – so charismatisch und bewundernswert er ist – keineswegs reingewaschen; Ereignisse wie das Massaker an den Gefangenen während der Schlacht lässt Shakespeare nicht aus, und es gab durchaus Stimmen, die aus dem Stück eine subversive, gegen den Krieg gerichtete Botschaft herauslesen wollten. Doch verfolgt man das Bühnengeschehen, ist es schier unmöglich, sich Gefühlen der Bewunderung und des Patriotismus zu entziehen.
Die beiden damals beliebten Wege, sich die Geschichte der englischen Nation anzueignen, waren eng miteinander verbunden. Die Theater und die Sehenswürdigkeiten in Westminster Abbey zogen große und vielfältige Besuchergruppen an. Shakespeare und Christopher Marlowe ist es zu verdanken, dass das Historienstück in den 1580er Jahren zum Erfolg gelangte; inzwischen steht das Genre für das elisabethanische Theater überhaupt. Dazu nochmals Jonathan Bate:
«Das Publikumstheater war in Shakespeares Tagen etwas ganz Neues, und eine der großen Innovationen im kulturellen Leben der Nation waren die Stücke zur englischen Geschichte. Man kann das grob zurückverfolgen bis zur Niederlage der spanischen Armada 1588. Das war wirklich das erste Ereignis, bei dem einfache Leute Gelegenheit bekamen, die Geschichte ihrer Nation zu entdecken. Und wenn diese Menschen etwas über die Geschichte ihrer Nation erfahren wollten, dann war es das Theater, wohin sie gehen mussten.»
Die Geschichte, wie sie dort geboten wurde, war erhebend patriotisch. In Heinrich V. bringt Shakespeare das Kunststück fertig, nicht nur antifranzösisch zu sein, sondern zudem noch glühend antischottisch.
«WESTMORELAND: Doch gibt es einen Spruch, sehr alt und wahr:
‹So du Frankreich willst gewinnen,
Mußt mit Schottland erst beginnen.›
Denn ist der Adler England erst auf Raub,
So kommt das Wiesel Schottland angeschlichen
Zu seinem unbewachten Nest und saugt
Ihm so die königlichen Eier aus …»
Hendrik Goltzius , The Kings and Queens of England, 1584. Zu sehen sind einige der Hauptfiguren von Shakespeares Historienstücken: Richard II. sowie die Lancasterkönige Heinrich IV., Heinrich V. und Heinrich VI.
Der Stammtischnationalismus
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