Shakespeares ruhelose Welt
Macht und des Patriotismus. In die Abteikirche gelangten sie am 7. November 1422, bei der Beerdigung des mit nur 35 Jahren jung gestorbenen Königs. Mit der feierlichen Beisetzung beginnt der erste Teil von Heinrich VI .:
«BEDFORD: Beflort den Himmel, weiche Tag der Nacht!
Kometen, Zeit- und Staatenwechsel kündend,
Schwingt die krystall’nen Zöpf am Firmament
Und geißelt die empörten bösen Sterne,
Die eingestimmt zu König Heinrichs Tod,
Heinrich des Fünften, zu groß, lang’ zu leben!
England verlor so würd’gen König nie.»
In den 1590er Jahren, als Shakespeare und sein Publikum Westminster Abbey besuchten, waren die Erinnerungsstücke an Heinrichs militärische Erfolge noch immer farbig und hell. Die ursprüngliche Statue wurde mindestens zweimal geplündert – zuletzt im Januar 1546, als Diebe bei einem mitternächtlichen Raubzug den silbernen Kopf mitgehen ließen –, der hölzerne Kern der Grabfigur aber blieb sichtbar, ebenso die gemalten Wappen des Königs; der blaue und goldene Samt befanden sich noch auf dem üppig gepolsterten Sattel; noch war die blau gemusterte chinesische Seide nicht verblichen, mit der der Schild ausgeschlagen war, und auf dem zerbeulten Helm ließ sich das aufgemalte Leopardenwappen erkennen. Diese zur Schau gestellte Armatur – leuchtend bunt, kunstvoll gefertigt und offensichtlich gebraucht – bot eine emphatische Erinnerung an die kriegerische Tapferkeit der historischen Gestalt im Grab darunter.
Seit über 400 Jahren haben Reisende die Gräber und Monumente in Westminster Abbey besichtigt; dieser Grabtourismus florierte bereits unter Elisabeth und ihrem Nachfolger Jakob. 1599 hat ein deutscher Besucher den Eintritt gezahlt, die Grabmale besichtigt und den Besuch in seinem Reisetagebuch sorgfältig festgehalten. Natürlich konnte er nicht, wie heutige Besucher, einen schnellen Schnappschuss mit seinem Handy machen, also notierte er die Grabinschrift: «Heinrich, Frankreichs Geißel, liegt in diesem Grab. Tugend bezwingt alle Dinge. A. D. 1422.»
Jonathan Bate weiß mehr über die Besucher von Westminster Abbey:
«Es ist einigermaßen überraschend zu entdecken, dass Westminster Abbey in London um 1600 eine regelrechte Touristenattraktion war. Tatsächlich war sie 1612 ein solcher Anziehungspunkt für Besucher, dass Fremdenführer eingestellt wurden, die Rundgänge anboten. Man musste einen Penny zahlen (genau den gleichen Preis wie für den Eintritt ins Theater), und der Führer nahm einen mit zu den Gräbern, hielt dabei eine kleine Geschichtsstunde. Man ging von Grab zu Grab, und auf jedem konnte man die Figur eines Monarchen sehen. Da gab es lateinische Inschriften, die die Namen der Toten, deren Verwandte, Taten und Leistungen nannten, und man kann sich gut vorstellen, wie jene Führer diese Texte übersetzten. Die Grabmale und die Königsfiguren waren die Hauptattraktion. Und so bestand eine ungewöhnliche Parallelität zwischen dem Besuch eines Historienstücks im Theater und dem Besuch in der Abtei, wohin man ging, um die ‹lebenden Monumente› zu besichtigen, wie die lebensechten Statuen der jeweiligen Könige und Königinnen damals genannt wurden.»
So hatte zu Shakespeares Zeit, wer nicht zu Büchern greifen wollte, zwei Wege, etwas über die Geschichte der englischen Nation zu erfahren: Man konnte in die Westminster Abbey gehen, einen Penny zahlen und sich die «lebenden Monumente» der toten Könige erklären lassen, oder aber ins Theater, auch dort einen Penny zahlen und den König sehen, wie er leibhaft über die Bühne stolziert. Der Held war, in beiden Fällen, höchstwahrscheinlich Heinrich V. Es mag seltsam erscheinen, dass ein König, dessen Regierungszeit so kurz war, dessen Eroberungen unter seinem Nachfolger so rasch wieder verloren gingen, in den 1590er Jahren einen solchen Heldenstatus erhielt. Die Historikerin Susan Doran erklärt, warum Heinrich V. zu einer nationalen Ikone erhoben wurde, und inwieweit Shakespeares Version dieses Königs dem historischen Heinrich entsprach:
«Die Differenz zwischen Mythos und Realität in der Darstellung war so groß nicht, wie sie etwa im Fall von Macbeth oder Richard III. sein könnte. Heinrich V. wird dargestellt als exemplarischer Vertreter des Rittertums. Er galt als edelmütig, als mutiger Krieger, als ein Mann, der seine Soldaten um sich sammeln, zu einem Bund von Brüdern formen konnte. Was man an ihm in der elisabethanischen Zeit, vor allem in den 1580er, 1590er Jahren schätzte, war
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