Shakespeares ruhelose Welt
der Historienstücke hat natürlich eingeschlagen: Sie begründeten Shakespeares Ruhm und schließlich auch sein Vermögen. Die Drucker wussten, dass es einen großen Markt gab für diese Texte: Sie gingen so oft in Druck wie alle anderen Shakespearestücke zusammengenommen. Weiteren Auftrieb bekam ihre Popularität, weil sie als nützlich betrachtet wurden, schließlich beruhten sie auf Fakten und machten,so sagte man, aus den Zuschauern bessere Bürger. Das wiederum lieferte den Betreibern der Theater Munition, um die Bühne gegen ihre puritanischen Kritiker zu verteidigen, ein Argumentationsgang, den der Stückeschreiber Thomas Heywood 1612 in seiner Apology for Actors genial entwickelt hat:
«Theaterstücke haben die Unwissenden scharfsichtiger gemacht; den Ungebildeten das Wissen vieler berühmter Siege gebracht; jene, die nicht lesen können, gelehrt, was in unseren Chroniken steht. Und welchen Mann von derart armen Fähigkeiten werdet ihr noch finden, dass er nicht über alles Wissenswerte sprechen könnte, das von Wilhelm dem Eroberer berichtet wurde, ja sogar von der Landung des Brutus, und das bis auf den heutigen Tag; wen, der nicht alles daransetzt, wahren Gebrauch davon zu machen? Denn in dieser Absicht nämlich werden die Stücke geschrieben und vorgeführt auf solche Weise, dass sie die Untertanen Gehorsam lehren können gegen ihren König; dass sie dem Volke die misslichen Ziele derer zeigen, die zu Tumulten, zu Aufruhr und Aufstand getrieben haben; und umgekehrt, dass sie ihnen den blühenden Staat all jener vor Augen führen, die in Gehorsam leben, ihnen also die Treue raten und sie von allen verräterischen und verbrecherischen Plänen abhalten.»
Hölzerne Grabskulptur der Königin Catherine de Valois, Westminster Abbey: die originale Figur ihrer Beerdigungsprozession. Ihr Leichnam erlebte mehrere Umbettungen; er wurde öffentlich zur Schau gestellt, bis er 1878 in die Grabkapelle Heinrichs V. gebracht wurde.
Mit anderen Worten: Die Leute, die im Theaterrund stehend Historienstücke verfolgen, lernen, gute, gesetzestreue Engländer zu sein und – vor allem – loyale Untertanen der Königin.
Laurence Olivier als Heinrich V. (Film von 1943/44). Im Epilog zu Heinrich IV., Teil II, hatte Shakespeare versprochen: «Es wird unser demütiger Verfasser die Geschichte fortsetzen … und euch durch die schöne Katharine von Frankreich belustigen.»
Da allerdings gab es ein kleines Problem. So glücklich sich Elisabeth wohl geschätzt hätte, hätte sie behaupten können, von Heinrich V. abzustammen – es traf schlicht nicht zu. Ihre Vorfahrin war Heinrichs französische Gemahlin Catherine de Valois, die nach dem Tod des Königs Owen Tudor geheiratet hatte und erst so zur Stammmutter der Tudor-Dynastie wurde. Shakespeare, listig und gewiss nicht überraschend, vernachlässigt Elisabeths attraktive Ahnfrau keineswegs, wenn er die Geschichte für sein Publikum dramatisiert. Catherine de Valois gehört zu den bezauberndsten Frauengestalten Shakespeares: so wie sie, die Französin, vor uns steht und versucht, ein paar englische Brocken zu lispeln, als sie vom Haudegen Heinrich umworben, geküsst und schließlich geheiratet wird. Auf der Bühne sind die beiden jedermanns Traumpaar. Und wie bei den königlichen Paaren heute, so wird auch ihr öffentlicher Kuss im fünften Akt von Hochrufen des Publikums begleitet, das sie vergöttert.
«KÖNIG HEINRICH: Ihr habt Zauberkraft in Euren Lippen, Käthchen; es ist mehr Beredsamkeit in einer süßen Berührung von ihnen, als in den Zungen des ganzen französischen Rates, und sie würden Heinrich von England eher bereden als eine allgemeine Bittschrift der Monarchen.»
Das sollte Catherines letzter Kuss nicht bleiben. Triumphierten «Harry und Kate» bereits auf der Bühne, so blieben sie auch über ihren Tod hinaus eine Doppelattraktion. Nicht weit von Heinrichs Grab liegt das seiner Gemahlin, und es wurde in den 1590er Jahren nicht seltener besucht als seines – mit gutem Grund: Lag Catherines einbalsamierter Leichnam doch offen vor aller Augen. Es war sogar möglich, ihren Körper zu berühren – was der Tagebuchschreiber Samuel Pepys siebzig Jahre später denn auch tat. Shakespeares Heinrich nachahmend beugte Pepys sich vor und küsste Catherines Lippen. Ob auch er ihre Zauberkraft verspürte, wissen wir nicht, die Szene aber hat ihn wohl bewegt:
«… und nahm sie [Frau und Tochter] mit nach Westminster Abbey … man gewährte uns sogar die besondere
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