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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Peachams The Art of Living in London (Die Lebenskunst in London) zeigt:
«Die Frau eines Händlers von der Börse bat, als dieser eines Tages in Geschäften in der City zu tun hatte, ihren Ehemann, er möge ihr erlauben, auszugehen und sich ein Theaterstück anzuschauen; sie hatte das seit sieben Jahren nicht getan. Er befahl ihr, seinen Lehrling mitzunehmen, dann könne sie gehen, solle aber recht gut auf ihren Geldbeutel achten. … Da saß sie in einer Loge, zwischen allerhand Galanen und deren Frauenzimmern, kehrte heim zu ihrem Ehemann und sagte ihm, sie habe ihren Geldbeutel verloren. … Sagte der Ehemann: ‹Wo hast du ihn gehabt?› – ‹Unter meinem Unterrock, zwischen Unterrock und Unterkleid.› – ‹Und du hast keine Hand dort gespürt?› – ‹Doch, eine Hand fühlte ich schon, dachte aber nicht, dass sie deswegen dorthin kam.›»
    Das Theater war ein Milieu, in dem eine Meisterin nicht die einzige war, die auf dumme Gedanken kommen konnte, wie James Shapiro von der Columbia University weiß:
«Viele Leute denken, dass Shakespeare und seine Zeitgenossen mit vierzehn oder fünfzehn heirateten, wie Romeo und Julia. In Wahrheit heirateten sie erst, wenn sie Mitte Zwanzig waren, denn von etwa fünfzehn bis sie ihre Zwanziger erreichten, gingen sie in die Lehre, lernten ein Gewerbe oder einen Beruf. Und so gab es eine Menge junger Männer, die sexuell reif waren, die viele Stunden arbeiteten, dann aber, wenn sie mit ihrer Clique ausgingen, auch über die Stränge schlagen wollten, saufen und prassen; sie gehörten zu einer bestimmten Altersgruppe, das war für sie genau so charakteristisch wie alles andere.»
    Junge Männer, die in der Stadt um die Häuser zogen, mussten einfach in Schwierigkeiten geraten, und sie taten dies auch. Besonders hoch her ging es am Fastnachtsdienstag, der nämlich bot die letzte Chance, Dampf abzulassen, bevor die Fastenzeit begann, die tristen Tage der Entbehrung. (An den Fastnachtdienstagen zwischen 1603 und 1642 wurden insgesamt vierundzwanzig schwere Krawalle gezählt.) Manchmal hatten sie vorher bereits getrunken, dann konnten sie, wenn ihnen das Programm nicht passte, schon mal das Theater auseinandernehmen. So stürmte 1617 ein Haufen Lehrlinge ins Cockpit Theatre und machte es zu Kleinholz, offenbar als Antwort auf die Entscheidung des Besitzers, die Aufführungen vom billigeren Freilichttheater Red Bull ins überdachte Cockpit zu verlegen, das sich Lehrjungen nicht leisten konnten und wo sie auch nicht willkommen waren. Die einfache Regieanweisung «Es kommen drei oder vier Lehrlinge mit einem Paar Knüppel» aus Sir Thomas Morus (einem Stück aus den 1590er Jahren, an dem Shakespeare mitgeschrieben haben könnte) zeigt etwas von der Randale, die Lehrlinge ohne Weiteres veranstalten konnten.
    Das aufsässige Verhalten dieser jungen Mützenträger konnte, insbesondere an öffentlichen Feiertagen, richtig gefährlich werden. Während der 1590er Jahre führte eine Folge von Missernten im ganzen Land zu Demonstrationen gegen gestiegene Lebensmittelpreise. Diese Proteste gerieten häufig außer Kontrolle. Einen solchen Augenblick stellt Shakespeare in Coriolanus dar: Das hungernde Volk wird aufgestachelt in seinem Zorn gegen den Mann, den man für die Lebensmittelknappheit verantwortlich macht:
«ERSTER BÜRGER: Ihr alle seid entschlossen, lieber zu sterben, als zu verhungern?
ALLE: Entschlossen! entschlossen!
ERSTER BÜRGER: Erstlich wißt ihr: Cajus Marcius ist der Hauptfeind des Volkes.
ALLE: Wir wissen’s! wir wissen’s!
ERSTER BÜRGER: Laßt uns ihn umbringen, so können wir die Kornpreise selbst machen. Ist das ein Urteilsspruch?
ALLE: Kein Geschwätz mehr darüber. Wir wollen’s tun. Fort! Fort!»
    All das wird beim Publikum eine Saite zum Klingen gebracht haben. Doch mit derart johlendem Vergnügen werden die Lehrlinge im Parterre die spätere Rede von Coriolanus’ Freund Menenius nicht quittiert haben – möglicherweise hat er sie, indem er herunterwies auf ihre Mützen, direkt angesprochen:
«MENENIUS: Ja, ihr seid’s,
Die unsre Luft verpestet, als ihr warft
Die schweiß’gen Mützen in die Höh’ und schriet:
‹Verbannt sei Coriolan!›»
    Der wilde Ruf nach Coriolanus’ Verbannung, der Roms Ordnung in den Grundfesten erschütterte, geht weit hinaus über das, was an ungestümen Faschingsdienstagen üblich war. In jener Szene spürt man wirkliche Bedrohung, und trotz aller Herablassung spricht Menenius aus, welche Aggression von einer

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