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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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bekam sogar Zugang zu hochwichtigem geheimem Wissen des Staates und befasste sich damit.»
    Dieses Wissen war für die Prosperität des Landes nicht weniger wichtig als Drakes Entdeckung neuer Seewege in den Pazifik (siehe Kapitel Eins).
    Schwerer einzuschätzen ist für uns, was wir davon halten sollen, dass Dr. Dee der Königin zur kolonialen Expansion in Amerika riet. Das Publikum aber, das verfolgte, wie Caliban oder Ariel Prosperos Befehle befolgen, wird kaum daran gezweifelt haben, dass im Zusammentreffen zweier Welten derjenige der Mächtigere sein würde, der über Magie verfügt. Als Prospero (der aus Mailand vertriebene Herzog) auf der Insel ankommt, befreit er mit seinem Wissen – seinen magischen Künsten – Ariel aus dem Spalt einer Pinie, in dem ihn eine Hexe festgeklemmt hatte. Freiheit, beschwert sich Ariel, habe Prospero ihm versprochen, nicht erneute Dienste, doch dieser stellt klar: «Meine [Zauber]Kunst … hieß [die gespaltne Pinie sich auftun] und heraus dich lassen». So wird Ariel aus der einen Gefangenschaft befreit, nur um wiederum in Sklaverei zu geraten.
    Ein mächtiger Europäer nimmt eine Insel in Besitz – sind wir noch in der Welt von Der Sturm , oder geht es hier um England und Spanien und ihre Eroberungen in der Neuen Welt? Shakespeares Publikum jedenfalls hat sich gewiss an jüngst vergangene Ereignisse jenseits des Atlantiks erinnert. In den 1590er Jahren hatten Sir Walter Raleighs Siedler versucht, auf Roanoke Island, vor der Küste North Carolinas, eine Siedlung zu errichten, und waren damit gescheitert. In Jamestown in Virginia war eine englische Kolonie entstanden, gerade ein, zwei Jahre bevor Der Sturm auf die Bühne kam. Noch wussteniemand, ob sie der doppelten Bedrohung durch Eingeborene und Klima würde trotzen können.

    John Dee , General and rare memorials pertayning to the perfect arte of navigation, Frontispiz 1577. In dieser Schrift prägte Dee den Ausdruck «British Empire» und begründete Elisabeths I. Anspruch auf Territorien im Norden mit der Präzedenz von König Arthurs Eroberungen.
    Stets waren Begegnungen mit Eingeborenen wie Caliban und Ariel zu befürchten. Die amerikanischen Indianer verfügten über vorzügliche Kenntnisse ihres Landes und seiner Ressourcen, doch die Wissenschaft eines Dr. Dee war ihnen noch überlegen – insbesondere, wenn ihre Erkenntnisse und Fähigkeiten als geheime Macht präsentiert wurden, die nur ihrem Besitzer zu Gebote steht (wie dies Pospero tat). Wer nicht über entsprechende Kenntnisse verfügt, dem erscheint Wissenschaft rasch wie Zauberei, insofern kann sie auch als Mittel der Unterdrückung dienen. Es war dies eine Taktik, wie sie die Spanier bei der Eroberung Mexikos und Perus mit großem Erfolg eingesetzt hatten.
    Insofern ist es verwirrend zu hören, dass Dr. Dees Spiegel selbst ein spanisches Beutestück aus Mexiko ist: Die polierte Scheibe aus schwarzem Obsidian ist ein aztekischer Spiegel, mit großer Sorgfalt hergestellt kurz bevor die Spanier ins Land kamen. Er wurde mit Steinwerkzeug gefertigt, und wie wir heute wissen – Dr. Dee wusste es wahrscheinlich noch nicht –, wurde die glänzende Oberfläche durch langes Reiben mit Fledermausexkrementen erzeugt. Die feinen Skelette der Insekten, die die Fledermäuse gefressen hatten, überstanden die Verdauungsprozedur und bildeten zuletzt eine wunderbare Schleifpaste. So ist dieser Spiegel – äußerst passend – mit Hilfe von Kreaturen der Nacht gefertigt worden.
    Mitglieder des aztekischen Königshauses nutzten solche Obsidianspiegel als Symbole ihrer Macht: als Mittel, in die Zukunft zu schauen. Einen Teil ihrer Macht bezogen sie von einem Gott namens Tezcatlipoca, dem «Herrn des rauchenden Spiegels». Als die Spanier mit Wissenschaft (und Pferden und Schusswaffen) die magischen Kräfte Mexikos überwanden, gelangte dieses magische Objekt nach Europa, wo es zum Element eines anderen – in mancher Hinsicht irritierend ähnlichen – Wissenssystems wurde, das nur wenigen Privilegierten und Mächtigen zur Verfügung stand.
    Shakespeares Prospero ist vielleicht die positivste Darstellung eines Magus im elisabethanischen und jakobäischen Drama – und das hat seine Ursache wohl in der Selbstbeschränkung, mit der er seine magischen Kräfte zu nutzen lernt. Ursprünglich war er von seinem Bruder nicht zuletzt wegen seiner obsessiven Beschäftigung mit der Magie als Herzog von Mailand abgesetzt und ins Exil auf die Insel getrieben worden, und zunächst hält

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