Shana, das Wolfsmädchen
sind schon lange tot«, sagte Lela, »und meine Eltern wohnten in der Stadt. Jetzt lebt nur noch mein Vater.«
»Warum wohnt er nicht hier?«
»Er wollte mir nicht zur Last fallen. Er wohnt in Clinton, nahe beim Krankenhaus. Das ist wichtig für ihn.
Er hat Nierenprobleme und muss dreimal in der Woche zur Behandlung. Außerdem sieht er schlecht. Immerhin kommt er ganz gut zurecht. Wenn er mich braucht, ruft er an und ich bin in zehn Minuten bei ihm.«
Ich betrachtete die Fotografien. Sie waren alt und manche schon vergilbt und zeigten Frauen und Männer, die aus einer anderen Zeit stammten.
»Ich mag diese Bilder«, sagte Lela. »Wir alle tragen ein Stück unser Vorfahren in uns, glaubst du nicht auch?«
Ich wich ihrem Blick aus.
»Doch«, sagte ich rau und dachte an Melanie.
Lela deutete auf eine blond gelockte Frau, die ein Kleid in Patchworklook trug. Solche Kleider kamen jetzt wieder in Mode.
»Astrid, meine Mutter. Sie kam aus Schweden. Sie war eine echte Hippie, ein ›Blumenkind‹, wie man damals sagte. Peace and Love, du weißt schon. Die Aufnahme stammt aus den sechziger Jahren, als Jimmi Hendrix in Woodstock auftrat. Astrid traf dort meinen Vater Josua. Hier!«
Sie deutete auf einen jungen Mann, mit Stirnband und taillenlangem Haar. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit großen Augen, runden Wangenknochen und einem Schurrbärtchen über blitzenden Zähnen.
»Astrid wollte unbedingt einen Indianer heiraten.«
»Er sieht gut aus«, sagte ich.
Sie seufzte.
»Ja, damals sah er wunderschön aus. Seit Astrids Tod ist er sehr gealtert. Du würdest ihn nicht wieder erkennen.«
»Wann starb sie?«
»Vor zwölf Jahren. Sie war lange krank.«
Ich senkte den Kopf.
»Meine Mutter auch.«
»Ja, ich habe davon gehört«, sagte Lela.
Und sie weiß bestimmt, wie es um meinen Vater steht, dachte ich bitter, doch Lela wies bereits auf die Fotografie daneben, die eine Gruppe Männer und Frauen in traditioneller Indianerkleidung zeigte. Nicht nur dass sie einander ähnelten, sie hatten alle den gleichen Ausdruck, die gleiche Haltung, steif und kerzengerade, wie es beim Fotografen gefordert wurde.
»Die Eltern meines Vaters und ihre Familie.«
»Gehörte ihnen das Haus?«, fragte ich.
»Ja, es wurde vor achtzig Jahren gebaut. Deswegen ist es so altmodisch.«
»Ich finde es schön«, sagte ich.
Sie lachte ein wenig.
»Meine Eltern waren gar nicht begeistert. Damals war das Haus nicht an die Kanalisation angeschlossen, ein tragbarer Gasofen bildete die einzige Wärmequelle und das Wasser wurde aus einem Brunnen geschöpft. Jetzt funktioniert alles elektrisch.«
Ich schluckte und kam mir schrecklich vorlaut vor. Aber die Neugierde war stärker.
»Waren Sie … nie verheiratet?«
Fältchen zeigten sich in ihren Augenwinkeln.
»Doch. Fünf Jahre lang. Ich bin geschieden.«
»Oh«, sagte ich, »es tut mir Leid.«
Sie verzog spöttisch die Lippen.
»Es kommt vor, weißt du, dass der eine dem anderen die Luft zum Atmen nimmt. Dann ist es besser, man trennt sich.«
»Und jetzt leben Sie allein?«
Sie blinzelte verschmitzt.
»Nun, vielleicht finde ich eines Tages den Richtigen? Und warum nicht hier?«
Ihr Lächeln wurde nachdenklich.
»Ich habe genug von der Welt gesehen. Eigentlich möchte ich hier nie wieder weg. Komm!«
Ich ging hinter ihr die Treppe hinauf. Die alten Stufen knarrten unter unseren Schritten. Auch im ersten Stock waren die Wände mit dunkel glänzendem Holz getäfelt. Durch die Maserung sah es aus, als wäre es mit Kristall überzogen. Im Vorbeigehen betrachtete ich eine Anzahl Ölbilder, die alle ausnahmslos Wölfe darstellten: Wölfe im Rudel, Wölfe beim Beuteschleichen, eine Wölfin mit ihren trinkenden Welpen. Meine Augen blieben fasziniert an ihnen haften. Eine seltsame Kraft ging von den Bildern aus, eine Kraft, die mich im Herzen berührte.
Lela ging an den Bildern vorbei, einen Flur entlang und öffnete eine Tür. Ich betrat ein kleines Erkerzimmer, dessen Wände und Decke weiß gestrichen waren. Ich sah ein Metronom, ein Notenpult, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Neben einem schmalen, voll gestopften Bücherregal hingen weitere Wolfsbilder, Acryl auf Leinen. Ich ertappte mich immer wieder dabei, dass ich sie ansehen musste. Es war, als hätten mich die Bilder verhext. Inzwischen schloss Lela einen Schrank auf und brachte einen Geigenkasten zum Vorschein. Sie öffnete den Verschluss und hob das Instrument heraus. Ich sah sofort, dass es eine andere Geige war: die
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