Shana, das Wolfsmädchen
Alles troff vor Nässe, die ganze Welt schwamm im Wasser. Nach der Schule fuhr ich zum Supermarkt, kaufte Milch und Brot ein. An der Kasse zahlte ich sorgfältig mit meinem letzten Kleingeld. Morgen war Monatsende, zum Glück. Die Wohlfahrt schickte den Scheck für meinen Vater und für gewöhnlich lagen am gleichen Abend ein paar Dollarscheine auf dem Küchentisch. Vor dem Laden verstaute ich mein Zeug unter dem Regenmantel und wollte gerade mit meinem Fahrrad losfahren, als ich mit einem Jungen zusammenprallte, der gerade seine nasse Kapuze ausschüttelte.
»Hi, Shana«, sagte Alec.
Ich starrte ihn an wie vom Blitz getroffen. Die Hitze schoss mir ins Gesicht.
»Hallo«, sagte ich tonlos und wäre am liebsten davongestürzt.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Ganz gut.«
Schweigen. Wir blickten uns an. Alec sah anders aus als früher. Erwachsener, irgendwie. Er war schon ein Mann und ich nur ein Schulmädchen.
»Wie lange bleibst du hier?«, stammelte ich. Er blinzelte mir zu.
»Nur bis morgen. Meine Mutter hat mal wieder geheiratet. Zum dritten Mal. Sie hat es getan, was soll ich dazu sagen. Aber Francis, der ist eigentlich ganz nett.«
»Oh«, machte ich unbestimmt.
»Es war mehr so eine Familienfeier«, sagte Alec.
»Dachte ich mir schon.«
Abermals Schweigen. Er lächelte mir vorsichtig zu.
»Sag, hast du Zeit?«
»Wozu?«
»Zu einer Cola?«
Ich schluckte schwer.
»Ich … ich habe kein Geld mehr.«
»Komm«, sagte er, »ich lade dich ein.«
Neben dem Supermarkt befand sich eine Bar. Fast alle Tische waren frei. Wir setzten uns. Alec bestellte eine Cola, ich wollte lieber einen Kaffee. Mir war schon den ganzen Tag kalt, ich hatte Kopfschmerzen und die Schultern taten mir weh.
Alecs ebenmäßiges Gesicht war braun gebrannt, die Augen klar und schwarz. Er trug immer noch den silbernen Ring in der linken Augenbraue. Ich sah, dass er meine Hände mit den abgekauten Nägeln betrachtete, und presste sie unwillkürlich zwischen meine Knie.
»Lässt du dein Haar jetzt wachsen?«, fragte er. Ich nickte.
»Bis auf die Schultern.«
»Steht dir gut.«
»Findest du?«
»Finde ich.«
Stille. Wir saßen befangen da wie unter einer massiven Glasglocke. Ich dachte mir ständig irgendwelche schlauen Sätze aus und verwarf sie doch alle gleich wieder.
»Und du? Was machst du jetzt?«, gelang es mir schließlich zu fragen. Er schien erleichtert, dass ich redete.
»Herumlungern jedenfalls nicht. Ich bin auf einer Filmschule.«
»Spannend?«
»Doch. Mir gefällt das.«
Er erzählte von Spezialeffekten, von Video und Computersimulation. Daneben machte er eine praktische Ausbildung in einer Multimedia-Agentur. Mir war auf merkwürdige Weise schwindlig. Ich nippte vorsichtig an meinem Kaffee, obwohl er nur lauwarm war.
»Und wo wohnst du?«
»Im Studentenheim war kein Platz mehr. Ich habe ein Zimmer bei einer Arztfamilie. Nette Leute, die Mutter kommt aus Deutschland. Sie haben ein Segelboot, mit dem sie am Wochenende hinausfahren. Da brauchen sie Hilfe und ich habe Muskeln. Und ich kann es den Wellen ansehen, wie weit weg ein Sturm ist und wie stark er weht. Das imponiert den Leuten.«
Er lachte. Sein Gesicht war um eine Spur dunkler geworden.
»Am Anfang wurde ich seekrank. Jetzt geht es besser. Aber erzähl von dir.«
Ich zeichnete mit dem Finger Ringe auf das Holz.
»Mrs Woodland gibt mir Geigenunterricht.« Er nickte.
»Ja, ich weiß.«
»Wer hat dir das gesagt? Deine Mutter?«
Er lachte.
»Nein. Mein neuer Vater, diesmal.«
Ich lachte auch. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich atmete freier.
»Meine Lehrerin sagt, vielleicht kriege ich ein Stipendium.«
»Klasse«, sagte Alec. »Noch zehn Jahre und wir schnappen den Bleichgesichtern alle guten Jobs weg!«
Vielleicht hätten die Dinge anders ausgehen können, damals. »Tut mir Leid«, hätte ich sagen sollen,»- ich kann das Kleid nicht finden. Schade, aber da ist nichts zu machen. Du tanzt und ich warte und wir sehen uns nachher, okay?« Etwas in diese Richtung. Die Wahrheit hätte ich ihm später mal sagen können. Und falls ihm etwas an mir lag, hätte er die Sache auch akzeptiert. Stattdessen hatte ich mich wie eine Kuh benommen. Bevor es schief ging mit uns, war es schön. Diese eine Nacht mit ihm nach dem Powwow, die konnte ich nicht vergessen. Aber sie kam mir jetzt so unwirklich wie ein Traum vor. Und der junge Mann, der mir gegenübersaß, war nicht mehr ganz der Mensch, den ich von früher kannte. Aber vielleicht dachte er
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