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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zerbrochene Scheiben mit Pappe vernagelt. Auch kochte meine Mutter stets Vorräte für den Winter, trocknete Früchte oder machte sie ein. Ich hatte im Herbst Früchte eingemacht und hoffte, dass sie nicht verschimmelten. Immerhin hatte sich Elliot um Brennholz gekümmert. Ich konnte zwar mit Axt und Keil gut umgehen, aber er sagte: »Lass das, du machst dir die Finger kaputt.«
    Manchmal raffte er sich tatsächlich auf und es ging ein paar Tage lang gut mit ihm. »Der Schmerz ist eine Krankheit«, hatte Lela gesagt. »Sie braucht Jahre, bis sie heilt.« Vielleicht war Melanies Geist nicht stark genug, um ihm zu helfen? Oder doch? Ich stellte mir oft die Frage, aber wusste nie eine Antwort.
    Als ich zum Fahrrad ging,lief ich schnell wieder ins Haus, holte meinen Parka, so kalt war es geworden. Der Wind blies um die Ecken und über die freien Plätze wie ein Wasserstrahl. Abgerissene Blätter kamen in ganzen Büscheln geflogen.
    Lelas Geländewagen stand nicht vor dem Haus. Wahrscheinlich hatte sie ihn in die Garage gebracht, damit die Reifen für den Winter montiert wurden. Ich suchte für mein Fahrrad eine geschützte Stelle an der Hauswand und ging die Stufen zur Veranda hinauf. An der Tür war ein kleiner Zettel mit Klebestreifen geheftet. »Shana, mein Vater hat gerade angerufen. Er muss Formulare für die Versicherung ausfüllen. Er hat sie vergessen und jetzt wird es dringend. Ich bin in einer halben Stunde wieder da. In der Küche steht Apfelkuchen.«
    Es passierte ab und zu, dass sie zur verabredeten Zeit nicht da war. Dann begann ich zu üben und bald kam sie. »Ich mag es, wenn Musik aus dem Fenster klingt«, hatte sie mal gesagt. »Es hört sich so vertraut an und gibt mir das Gefühl, dass ich richtig hier wohne.«
    Ich tastete nach dem Schlüssel, der in einem Blumentopf auf der Fensterbank lag, und schloss die Tür auf. Meine Finger waren ganz steif – ich musste mir unbedingt Handschuhe stricken. Es war noch früh, knapp halb drei, aber der Nordwind brachte dunkle Wolken. Ich machte Licht. Dieses komische Gefühl im Bauch mochte Hunger sein. Ich ging in die Küche. Bis auf einen Teller mit einem großen Stück Apfelkuchen war der Tisch leer. Gierig verschlang ich den Kuchen. Als ich den Teller zum Abwaschen in die Spüle brachte, fiel er mir aus der Hand, zersprang auf den Fliesen.
    »Scheiße!«, murmelte ich, holte Handfeger und Schippe und fegte die Scherben auf. Ich verließ die Küche mit schlechtem Gewissen, wanderte im Wohnzimmer auf und ab. Ich hätte jetzt üben sollen, aber irgendwas machte mich ganz kribbelig. Eine unbekannte, beklemmende Unruhe stieg in mir auf. Ich trat dicht ans Fenster heran. Lela musste jeden Augenblick kommen. Aber nein – nichts. Die Wolken hatten eine komische Farbe, wirklich. Auch der Wind hörte sich jetzt anders an; er sang heller und auch klarer, beinahe wie eine Schelle. Die Böen schienen außen am Haus zu kratzen, die Scheiben vibrierten ganz leise. Nach einer Weile ging ich die Treppe hinauf, zum Erkerzimmer. Die Tür von Lelas Schlafzimmer war nur angelehnt. Ich stieß sie vorsichtig auf. Den Raum sah ich zum ersten Mal. Der wuchtige Spiegelschrank, das große Bett, der Frisiertisch mit seiner dicken Marmorplatte entsprachen keineswegs Lelas Geschmack: Sie bevorzugte einfache Dinge. Das Bett war gemacht, die Decke aus schwerem Satin sorgfältig glatt gezogen. In einem altmodischen Messingrahmen hing das schwarz-weiße Porträt einer Frau. Ich trat näher, um es genau zu betrachten. Es war die Großmutter, kein Zweifel. Den Kopf hielt sie leicht zur Seite geneigt, ihr fülliges, glattes Haar war straff geflochten. Sie trug einen Ohrring in Form einer Kette, an dem ein silbernes Glöckchen baumelte. Ich hatte bei mir selbst festgestellt, dass beide Gesichtshälften nie gleich sind. Bei Sunke Nagi war diese Eigenart besonders ausgeprägt. Die eine Seite des Gesichtes deutete ein Lächeln an, zärtlich, fast kindlich. Die andere Seite zeigte Freimut, Eigensinn und Stolz. Ihr Blick war scharf. Sie war eine selbstbewusste Frau, eine Frau, der man zu gehorchen hatte. Gleich gegenüber hing das Ölbild eines Wolfes. Nur der Kopf und sonst nichts. Das Tier hob sich düster aus einer verschwommenen blauen und grünen Fläche ab. Die Augen leuchteten golden. Es waren, dachte ich, mehr Menschenaugen als Tieraugen. Eine große Ruhe lag in diesem Blick und doch kam mir das Bild ungeheuer lebendig und geheimnisvoll vor. Ich fühlte mich im Banne eines Schattens, eines

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