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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Elliot mit großem Mitgefühl gesagt. Zur Beisetzung wollte er nicht kommen. »Warum?«, hatte ich gefragt. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. »Mir liegt nichts daran.« Doch ich wusste, dass er an meine Mutter dachte.
    Man hatte Lela in ihr Gewand aus Hirschleder gekleidet und in einen schlichten Sarg aus Zedernholz gebettet. Lelas Vater war aus Clinton gekommen. Er wurde von einem Verwandten umsorgt und ich hielt mich abseits. Josua Woodland war schmächtig, eine Schulter hing etwas herab, aber er hielt sich noch kerzengerade. Nichts an ihm erinnerte an den strahlenden jungen Mann auf dem alten Foto. Sein Haar war dünn, völlig ergraut und er trug ein Hörgerät. Ich hielt meinen Geigenkasten in der Hand. Dabei dachte ich, wie sehr dieser Geigenkasten einem kleinen Sarg glich. Die Luft war kalt und klar, der Himmel blendete. Der Friedhof war von dem Geräusch der Schritte, dem Murmeln leiser Stimmen angefüllt. Der Pfarrer, ein großer, gelassener Mann, sprach von Lelas musikalischem Talent, von ihrer Begabung als Lehrerin. Ich ließ die Gegenwart an mir vorübergleiten, hörte die Worte, aber gab mir nicht die Mühe, ihren Sinn zu verstehen. Sie hatten keine Bedeutung für mich. Nach der Grabrede wandte sich der Pfarrer an mich. Ich hatte ihn vor dem Gottesdienst um einen Gefallen gebeten.
    »Eine Schülerin hat einen besonderen Wunsch: Sie möchte ein letztes Mal für ihre geliebte Lehrerin spielen.«
    Ich trat vor. Das Gegenlicht legte einen dunstigen Film auf meine Augen. Und durch diesen Schleier sah ich plötzlich Lela. Sie stand vor mir, als ob sie lebte, erfüllte meine ganze Wahrnehmung,mein ganzes Herz. Sie trug ihr wunderschönes Kleid, mit der gelb-schwarzen Perlenstickerei, die einen Wolf darstellte. Sie lächelte mir zu und wob mit diesem Lächeln einen Faden, der unsere Seelen für immer verknüpfte. Ich öffnete den Geigenkasten und stimmte das Instrument. Dann strich ich mit dem Bogen über die Saiten und spielte das Adagio von Max Bruch, das letzte Stück, das Lela und ich zusammen gespielt hatten. Mein Körper erschauerte, als die Klänge emporschwebten, voll tönend, eindringlich, jubelnd wie eine Lerche in der Morgenfrühe. Lela war tot. Aber die Musik sprach von Liebe, von bleibendem Leben. Das schmerzvolle und doch so süße Lied erfüllte die Stille. Es schien, als klänge aus ihr die Stimme des Windes, der Atem der freien Natur. Die Luft war klar und flirrend, von kleinen Eisfunken durchwebt. Blaues Licht umhüllte den Friedhof, ein azurfarbener, lebender Glanz. Und selbst als die Melodie verklang, wich der Zauberschein nicht von meinen inneren Augen. Er blieb wie eine Hellsicht der Liebe und würde ewig bleiben.
    Als die Männer das Grab zugeschaufelt hatten und die Trauergäste sich verstreuten, trat Lelas Vater mit unbeholfenen Schritten auf mich zu. Seine Stimme löste sich nur mühsam aus der Tiefe.
    »Du bist Shana, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich und spürte, wie ich rot wurde.
    Josua Woodland hatte Augen, wie sie manchmal bei sehr alten Leuten oder bei Säuglingen vorkommen: dunkelblau, weiß gerändert und verschwommen.
    »Lela sprach oft von dir. Du hast wundervoll gespielt.«
    Ich schluckte schwer.
    »Ich … ich wollte ihr eine Freude machen.«
    »Das ist dir gelungen. Ich weiß es … hier.«
    Der alte Mann legte seine zitternde Hand auf sein Herz.
    »Du hast auch mir Trost geschenkt. Man sagt, dass Musik alle Schmerzen heilt. Ich denke, daran ist etwas Wahres.«
    Ich fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen.
    »Ich war bei Lela, als sie starb. Kann ich Sie … einen Augenblick sprechen? Ich … ich muss Ihnen etwas sagen …«
    Jedes einzelne Wort blieb mir fast im Hals stecken.
    Doch er nickte ruhig.
    »Ich werde eine Nacht hier verbringen. Komm morgen zu mir! Du kennst ja das Haus.«
    »Nach der Schule?«
    »Wann du willst. Du musst laut klopfen«, setzte er hinzu. »Und werde nicht ungeduldig,wenn ich nicht sofort aufmache. Ich bin etwas langsam, weißt du. Das wirst du auch, wenn du alt bist.«
    Am nächsten Tag, nach Schulschluss, machte ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg. Was ich Lelas Vater zu sagen hatte, kam mir aufdringlich und schwierig vor, fast zu schwierig. Aber ich hatte Lela ein Versprechen gegeben.
    Ich bog von der Straße ab, fuhr auf das Haus zu und mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Das ganze Haus war für mich voller Erinnerungen. Ich konnte nichts dafür, sie brandeten durch meinen Kopf wie Wellen. Die Frau, die hier gelebt hatte,

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