Shana, das Wolfsmädchen
Und ich müsste mit Ihnen darüber sprechen. Und im Frühjahr soll ich Professor Castaldi anrufen und er würde mir Geigenunterricht geben.«
Ich biss mir hart auf die Lippen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Worte keinen Zusammenhang bildeten. »Ich … ich würde diese Sache am liebsten für mich behalten. Es ist nur so, ich denke, sie wäre traurig, wenn ich mit Ihnen nicht darüber reden würde. Sie … sie wurde ganz ruhig, als ich sagte, ich würde es tun. Sie lächelte sogar …«
Er ließ mich nicht aus den Augen.
»Ich verstehe«, sagte er leise.
Nicht nur mein Gesicht, alles in mir schien zu glühen. Ich knetete verzweifelt meine Hände.
»Vielleicht glauben Sie mir nicht …«
Ein schwerer Atemzug hob seine Brust.
»Doch. Ich glaube dir.«
Schweigen. Der alte Mann saß da, mit eingezogenen Schultern und hängendem Kopf. Dann zuckten die Lider über seine geröteten Augen. Er seufzte und erhob sich schwerfällig.
»Komm!«
Er schlurfte zur Tür hinaus. Ich folgte ihm, während er mit unsicheren Schritten die Treppe hinaufstieg. Ich betrachtete die vertrauten Bilder an den Wänden. Die Wölfe starrten zurück, ihre Blicke waren tief und eindringlich. Der hinkende Wolf, der mir gefolgt war, kam mir in den Sinn und für ein paar Sekunden sah ich ihn ganz deutlich vor mir.
Lelas Vater ging mühsam weiter. Blieb stehen. Von dem Erkerzimmer trennte mich jetzt nur eine Tür. Er legte die Hand auf die Klinke, ließ sie einen Atemzug lang darauf ruhen, bevor er sie herunterdrückte. Ich kam mir vor wie eine Schwimmerin, die plötzlich weiß, dass sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Die Tür knirschte leise, sprang auf. Mein Atem stockte. Hier war Lelas Welt, eine Welt voller Erinnerungen, die für eine kurze Zeit auch die meine gewesen war. Die Abendsonne schien durch die offenen Läden. Das Leuchten kam wie Wellen, als ob dieses Gold etwas Greifbares war. Der alte Mann tauchte in das Licht ein, nahm den verschlossenen Geigenkasten aus dem Schrank. Dabei bewegte sich sein Schatten an der Wand wie eine Art Doppelgänger. Ein Schauer überlief mich, als er sich jetzt, mit dem Kasten in der Hand, zu mir umdrehte. Sein dunkles Gesicht war der Sonne zugewandt, die in seinen blassen Pupillen schimmerte.
»Es ist eine sehr alte und gute Geige«, sagte er. »Sie wurde in Italien gebaut, in einer Stadt, die Cremona heißt.«
Er trat auf mich zu, gab mir die Geige und sein Schatten folgte ihm. Mir war, als ob beide, Mensch und Schatten, mir die Geige zugleich überreichten, und die Wölfe auf den Bildern sahen zu, mit starren, verträumten Augen.
»Sie gehört jetzt dir«, sagte Josua Woodland.
17. KAPITEL
Lelas Geige hatte ich nie in der Hand gehabt und sie auch nicht eingehend betrachtet. Jetzt, alleine in meinem Zimmer, öffnete ich den Verschluss und besah mir das Instrument. Der Lack war, so alt, wie er sein mochte, nirgends abgesplittert. Er hatte noch immer den tiefen, samtartigen Glanz. Neugierig betrachtete ich alle Einzelheiten bis hinein ins Innere durch eine der f-förmigen Ritzen. Auf dem Boden war ein unleserliches Etikett aufgeklebt. Die Saiten waren neu, Lela musste sie erst kürzlich ersetzt haben. Doch was war denn das? Auf dem Wirbelkasten war anstatt der üblichen Schneckenverzierung eine kleine Holzschnitzerei angebracht, der Kopf eines Tieres. Ich sah genauer hin, mein Herz klopfte stark. Wahrhaftig, es war ein Wolfskopf! Die Schnitzerei war bereits etwas abgesplittert. Dort, wo Lack abgeplatzt war, kam das nackte Holz hervor und der Kopf wirkte dadurch merkwürdig ausdrucksvoll. Ich war zutiefst aufgewühlt. Bei jedem Atemzug fühlte ich das Dehnen und Einziehen meiner Rippen unter dem Pullover.
Also hatten die Wölfe nicht nur etwas mit Sunke Nagi und mit Lela zu tun, sondern auch mit mir. Es machte mir keine Angst, im Gegenteil. Ich fühlte mich auf besondere Art beschützt und gestärkt.
Spätabends kam mein Vater. Ich hatte Linsensuppe für ihn warm gestellt. Während er die Suppe löffelte, erzählte ich ihm von der Geige. Er hörte zu, in seiner abwesenden Art.
»Und was nun?«, fragte er.
»Ich habe einen Job. Bei Martha Grimes, in unserem alten Laden.«
Er hob die Brauen.
»So? Hat sie dich haben wollen?«
»Nur am Wochenende.«
»Da verdienst du nicht viel.«
»Ich brauche Zeit zum Üben. Im Frühling bin ich mit der Schule fertig. Dann fahre ich nach Vancouver zu Professor Castaldi. Lela meinte, dass ich ein Stipendium haben kann.«
Mein Vater schwieg lange.
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