Shana, das Wolfsmädchen
gab es nicht mehr. Und doch gab es mich und sie war ein Stück von mir. Und so würde es immer bleiben.
Ich stellte das Fahrrad ab, stapfte durch den Vorgarten. Hinter den Scheiben im Wohnzimmer brannte Licht. Ich ging über die Veranda und klopfte. Stille. Ich klopfte lauter. Endlich vernahm ich drinnen ein schlürfendes Geräusch. Die Tür ging auf.
»Ach, Kind, du bist es«, sagte Josua Woodland.
»Wartest du schon lange?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie störe.«
»Ich sehe Papiere durch«, sagte der alte Mann, »und muss mich dabei konzentrieren. Komm nur!«
Ich zog meine Stiefel aus, trat in Socken hinter ihm in die Diele. Gestern hatte er in seinem schwarzen Anzug einen stattlichen Eindruck gemacht. Heute trug er eine ausgebeulte Hose und ein altes Hemd mit einer fusseligen grauen Strickjacke. Auf dem Wohnzimmertisch waren alle möglichen Unterlagen, Aktenstücke und Briefe ausgebreitet.
»Du kennst dich gewiss hier aus«, sagte Josua.
»Willst du so gut sein und uns einen Tee machen?« Ich hing meinen Parka auf. Ich hatte immer noch Lelas Handschuhe an, durchgescheuert und schmutzig, wie sie waren. Zögernd legte ich sie in die Schublade zurück. Neben dem Schuhschrank hing Lelas roter Daunenmantel;ich wandte die Augen ab. Ich ging in die Küche, machte den Herd an, stellte zwei Tassen, Zuckerdose und Milch auf ein Tablett. Ich hörte Josua im Wohnzimmer hantieren. Als ich ein paar Minuten später mit dem Tablett aus der Küche kam, waren die Unterlagen auf die Seite geräumt. Ich stellte das Tablett ab, hob die Kanne und goss dem alten Mann Tee ein.
»Danke dir, Kind.« Er nahm seine Brille ab, rieb sich mit müder Geste die Augen.
»Meine Schwester Elsie kommt morgen und holt mich. Ich kann nicht alleine hier wohnen und werde das Haus verkaufen. Elsie nimmt einige Möbel und die Bilder.«
Ich blieb stumm, umklammerte meine Tasse mit beiden Händen. Endlich sagte ich: »Ich wollte sie anrufen an dem Tag, aber es ging nicht. Der Sturm hatte die Leitung beschädigt.«
»Ja, ich weiß«, nickte er. »Wir sahen das Unwetter kommen. Ich hatte kein gutes Gefühl, aber Lela sagte: ›Ich muss nach Hause, meine Schülerin wartet.‹« Ich zuckte zusammen. Ein beklemmendes Gefühl schnürte mir die Kehle zu. Sie war meinetwegen gestorben! Doch der alte Mann schien meine Gedanken zu ahnen. Er legte sanft seine knochige Hand auf meine.
»Mach dir keine Gewissensbisse! Niemand trägt die Schuld. Es war ihr Schicksal.«
Er nahm einen Schluck. Ich sah, wie seine Unterlippe leicht zitterte. Eine Weile war es so still im Zimmer, dass ich uns atmen hörte. Schließlich brach Josua mit seiner heiseren Stimme das Schweigen.
»Sag mir, wie ist sie gestorben? Hatte sie große Schmerzen?«
Ich stellte behutsam meine Tasse auf den Tisch. Ich schuldete ihm die Wahrheit. Stockend berichtete ich, wie ich Lela gesucht hatte und rechtzeitig gekommen war, um ihr den Tod zu erleichtern.
»Ich konnte nichts für sie tun. Jede Hilfe kam zu spät. Ob sie gelitten hat? Ich glaube, zum Schluss hat sie nicht mehr viel gespürt …«
Er nickte vor sich hin.
»Es ist gut, dass du bei ihr warst. Die Menschen sind froh, wenn sie nicht alleine sterben müssen.«
Ein Seufzer teilte seine Lippen; er sah plötzlich unendlich müde aus. Ich legte beide Arme auf den Tisch, verbarg mein Gesicht und weinte. Es war das erste Mal seit Lelas Tod, dass ich weinen konnte. Nach einer Weile spürte ich einen Luftzug, eine Bewegung. Ein Schatten beugte sich über mich. Josua Woodland hatte die Hand auf meinen Kopf gelegt, ein ganz leichtes, zärtliches Kraulen. So blieben wir schweigend, bis ich mich beruhigt hatte. Dann tastete ich nach meinem Taschentuch, putzte mir die Nase, trocknete mein verschwollenes Gesicht.
»Es tut mir Leid.«
Er schüttelte weich den Kopf.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber du hast gesagt, dass Lela mir etwas mitteilen wollte?«
»Ach«, entgegnete ich beschämt, »es kommt mir so unwichtig vor!«
»Es ist sicher nicht unwichtig«, sagte der alte Mann gütig. »Nun, was hat sie gesagt?«
Ich schluckte würgend. Ich dachte, wenn ich jetzt nicht rede, werde ich es nie können.
»Sie … sie wollte mir ihre Geige geben.«
Er blickte mich wortlos an, kniff leicht die Lider zusammen. Die Worte sprudelten jetzt aus meinem Mund. Ich hätte alles gegeben, um das nicht sagen zu müssen. Aber ich hatte Lela mein Versprechen gegeben.
»Sie hat gesagt, ich soll ihre Geige haben.
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