Shana, das Wolfsmädchen
es schon vorher gehört hatte. Mehr als ein Geräusch war es das Gefühl einer Gegenwart. Ich wandte mich um. Nichts. Kein Mensch. Doch, etwas hatte sich bewegt.
Meine Augen versuchten die Finsternis zu durchdringen. Das Gewebe der Dunkelheit, von unterschiedlicher Dichte, wies bewegliche Flecken auf. War da ein Schatten oder nicht? Wahrscheinlich nur ein Busch, der seine Eislast abschüttelte. Ich blieb regungslos mit vorgeneigtem Kopf stehen. Stille. Ich hörte nur meinen Herzschlag. Nach ein paar Sekunden ging ich weiter. Da – schon wieder das leise Rascheln! Ein Mensch konnte es nicht sein. Es gab keine Erklärung für etwas, das sich bewegte und immer wieder stillstand, außer dass es sich um ein Tier handeln musste. Angst hatte ich nicht. Ich nahm an, dass der Eissturm auch die wilden Tiere verwirrt hatte. Wenn man sie nicht beachtete, griffen sie auch nicht an. Ich setzte mich in Bewegung. Nach ein paar Schritten wieder das Geräusch, näher diesmal. Mein Herz tat ein Sprung in meiner Brust. Rasch drehte ich mich um und sah im Helldunkel ein Tier, das mir auf den ersten Blick wie ein großer Hund vorkam. Doch nein, Haltung und Körperbau waren anders. Hunde halten Kopf und Schwanz erhoben. Dieses Tier war größer, hielt den Kopf tief, den Schwanz gesenkt. Ein Wolf? Ich wusste, dass Wölfe Menschen im Allgemeinen nicht anfallen, ja sogar ihre Gegenwart meiden. Aber warum verfolgte mich das Tier? War es hungrig? Hatte es sich verirrt? Konnte es der Wolf sein, den ich – Monate zuvor – heulen gehört hatte? Ein leichter Geruch schwebte an meiner Nase vorbei, scharf, aber nicht unangenehm. Das Tier war mir offenbar nicht feindlich gesinnt. Und solange es mich nicht bedrohte, fürchtete ich mich nicht. Lelas Erzählungen kamen mir in den Sinn. Wölfe spüren die Gefühle der Menschen. Wenn sich Lelas Großmutter nicht gefürchtet hatte, warum dann ich? Doch ich war sehr eilig und verzweifelt. »Ich tu dir nichts«, rief ich dem Tier in Gedanken zu. »Ich bin traurig und alleine. Lass mich in Ruhe!«
Immerhin musste ich vorsichtig sein. Überstürzte Fluchtbewegungen wecken den Jagdinstinkt. Bewusst langsam drehte ich dem Tier den Rücken zu, gab ihm zu verstehen, dass ich nicht vor ihm davonlief. Und ging weiter. Als ich nach einer Weile über meine Schulter blickte, sah ich, dass der Wolf mir folgte. Jetzt lichtete sich das Unterholz, das Tier war deutlicher zu sehen. Ich bemerkte, dass es beim Gehen hinkte. Sein linkes Vorderbein knickte bei jedem Schritt leicht ein. Das beunruhigte mich. Wölfe halten für gewöhnlich zusammen: Ein verletztes Tier wird von dem Rudel gefüttert. Aber gehen die Wölfe auf Wanderschaft, kann das schwächliche Tier nicht schnell genug laufen und bleibt zurück.
Solche Einzelgänger haben es schwer und werden gefährlich. Ich zwang mich mit größter Willensanstrengung keine Furcht zu zeigen und stapfte weiter. An der zunehmenden Kälte merkte ich, dass ich die Passhöhe erreichte. Fast im gleichen Augenblick hörte ich Motorenlärm. Lichtstreifen huschten in der Dunkelheit. Die Schneefräse war bei der Arbeit, machte die Straße frei. Die Mannschaft arbeitete im Licht der Stablampen und Scheinwerfer. Jetzt dachte ich nicht mehr an den Wolf, lief auf die Scheinwerfer zu. Taumelnd vor Erschöpfung glitt ich auf der Eisfläche aus, schlug der Länge nach hin. Ich hatte das Gefühl, dass meine Knochen platzten, dass ich innerlich zersplitterte, verblutete wie Lela.
Verzweifelt bemühte ich mich wieder auf die Beine zu kommen. Ich war zu ausgepumpt, zu schwach, meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr. Ich konnte nicht einmal mehr heulen. Zähneklappernd blieb ich sitzen, die Kälte drang mir bis ins Mark. Nach einer Weile tanzten mir zwei Lichtpunkte entgegen, wurden größer, kamen näher. Ich hörte Stimmen, hob verwirrt blinzelnd den Kopf und sah, wie zwei Männer von der Straßenbrigade mit ihren Taschenlampen auf mich zustapften.
16. KAPITEL
Lelas Beisetzung fand drei Tage später statt. Der Tag war windstill, der Himmel funkelnd blau, Bäume und Sträucher weiß überpudert. Die Stromversorgung war wieder hergestellt, die Straßen gesäubert. Am Morgen der Beisetzung läuteten in der Dorfkirche die Glocken und die Bewohner versammelten sich zum Trauergottesdienst. Alle Schüler waren anwesend, viele mit verheulten Gesichtern. Ich jedoch konnte nicht weinen. Die Tränen trockneten sofort. In mir war nichts, nur ein schwarzes Loch. »Ich bin traurig für dich«, hatte
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