Shane - Das erste Jahr (German Edition)
wollte.
Gegenüber von der kleinen Gasse, die sie zu Weihnachten entdeckt hatte, fehlte eine Linie. Sie wollte nachschauen, ob es dort wirklich keine Straße gäbe, oder ob sie lediglich im Stadtplan fehlte. Shane hatte sich in Bewegung gesetzt.
Als sie die Straße überquerte, konnte sie bereits sie durch den Mauerbruch blicken. Sie versuchte nicht an jenen Abend zu denken, sie verscheuchte die Gedanken, doch manchmal, und das geschah in letzter Zeit immer häufiger, kamen sie hervor und quälten sie.
Sie hatte keine Träume mehr, nicht mehr diesen einen Traum, doch sie konnte sich an alles erinnern, konnte sich an die Gesichter erinnern,
sah sie vor sich, als würden sie mit ihr über die gefrorenen Straßen laufen.
Shane hatte die erste Mauer durchquert, bald auch die zweite, als sie ein Geräusch hörte. Sie drehte sich um. Nichts.
Nur eilende Menschen, die sich wie dunkle Gestalten durch die Gassen zwängten; gebeugt und die Schultern hochgezogen, um sich vor der Eiseskälte zu schützen. Shane ging zügig weiter.
Auf dem Markt herrschte gähnende Leere. Der Brunnen in der Mitte des Platzes war nur noch ein leerer Steinkreis, jetzt, wo kein Wasser mehr in ihm sprudelte. Shane drehte langsam den Kopf nach links. Dort war sie, die dunkle Gasse. Selbst heute, obwohl es noch nicht dunkel war, sah sie fast schwarz aus, wie eine schwarze Ritze. Shane drehte schnell den Kopf weg. Sie schaute nach rechts. Tatsächlich, dort war eine Straße, genau gegenüber lag sie, Shane schritt darauf zu.
Als sie am Marktplatzrand angekommen war, blieb sie stehen. Auch hier gab es kein Straßenschild. Shane reckte den Kopf nach vorn.
Diese Gasse sah nicht ganz so dunkel aus, trotzdem war es ihr mulmig zumute; doch sie musste sie betreten, sie musste kontrollieren, ob es eine Sackgasse und damit das genaue Spiegelbild der gegenüberliegenden war; ob das Mandala, welches sie entdeckt hatte, eines bleiben würde.
Langsam ging sie in die Gasse hinein. Wieder hörte sie ein Geräusch. Sie fuhr herum. Eine Katze glotzte sie an. Shane drehte sich wieder um und lief weiter. Nur Gestrüpp rechts und links, trockenes und verwildertes Geäst.
Sie blickte nach vorn. Es war eine Sackgasse. Beinahe zufrieden nickte sie und wandte sich um. Vor ihr saß die Katze.
Sie hatte sich auf den vereisten Boden gesetzt, den struppigen Schwanz um ihren Körper gelegt und starrte Shane aus bernsteinfarbenen Augen an.
Shane lief vorsichtig an ihr vorbei. Die Katze rührte sich nicht von der Stelle. Shane schüttelte den Kopf.
16.15.Uhr. Sie lag gut in der Zeit. Sie lief am Marktplatz entlang, bog links ab und steuerte direkt auf die zweite Mauer zu. Von hier aus kam sie gut voran, sie konnte den äußeren Ring schon erkennen. Shane blickte in den Himmel. Es war fast dunkel.
Sie runzelte die Stirn. Langsam blickte sich um. Die Katze lief hinter ihr her.
Shane blieb stehen. Die Katze setzte sich wieder auf ihr Hinterteil. Shane drehte sich um ging auf das graue Tier zu. Sie ging in die Knie. „Na hallo, kleines Kätzchen, wieso…“ Sie zog den Handschuh aus und streckte die Hand aus. Die Katze streckte den struppigen Kopf und fauchte Shane an.
„Ist ja gut, ich…“
Das graue Tier tat einen Satz auf Shane zu.
„Aua! Du blödes Vieh!“ Shane zog die Hand zurück. Vier rote Striemen zogen sich darüber. „Was sollte das?“
Die Katze drehte sich um und trottete davon.
Shane blickte ihre Hand an. Blut tropfte auf die kalten Pflastersteine herab.
Sie suchte in ihrer Manteltasche nach einem Taschentuch.
Als sie zuhause war, deckte die Mutter schon den Tisch. Shane hängte ihren Mantel an den Hacken und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen.
Sie sah in den Spiegel. Grüne Augen blickten sie an.
Shane öffnete den Schrank über dem Waschbecken und nahm ein Päckchen Pflaster heraus.
Eines klebte sie über ihre Hand, die anderen schob sie in die Hosentasche. Sie hatte noch genügend Schnallen in ihrem Mantel frei. Dieses verdammte Katzenvieh!
Auf dem Tisch lag mit der Rückseite nach oben die Zeitung. Shane zog sie zu sich rüber. Unter einem kleinen Artikel war ein Bild gezeichnet, es sah aus, als wäre es mit ein paar Bleistiftstriften gemalt worden. Darunter stand: S…k…i…z
„Mist!“
„Was?“ Die Mutter drehte sich um.
„Was ist das?“
Die Mutter kam näher und warf einen Blick auf die Zeitung. „Ach, das ist die neue Brücke, die sie bauen wollen.“
„Wo?“
„Na, hier, in der Stadt! So soll
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