Shane - Das erste Jahr (German Edition)
eine bessere Anschlussstelle zu benachbarten Städten gewährleistet werden. Wenn ich das schon höre!“ Die Mutter verdrehte die Augen.
„Die sieht ja riesig aus.“
„Ja.“ Sie schaute wieder auf das Bild. „Sie wird unser ganzes Stadtbild verschandeln. Was denkst du, wie viele Unterschriften dagegen schon gesammelt wurden!“ Sie drehte sich wieder um und widmete sich den Töpfen. Shane betrachtete das Bild. Ein riesiger Arm führte aus der Stadt hinaus.
Beim Essen griff der Vater nach der Zeitung.
„Wo ist Mark?“, fragte Shane.
„Der ist irgendwas besorgen. Manfred! Musst du immer lesen, wenn wir alle zusammensitzen?“
„Ich will nur kurz die Nachrichten …“ Er hielt inne.
Die Mutter schaute ihn an. Die Brückenskizze schaute aus der aufgeschlagenen Zeitung auf Shane hinab.
„Was ist?“
„Nichts.“ Der Vater warf Shane einen kurzen Blick zu und faltete dann die Zeitung zusammen.
Gertie runzelte die Stirn. Sie griff nach der Zeitung. Shane legte die Gabel auf den Tellerrand und beobachtete die Mutter, die die Schlagzeilen auf der Titelseite überflog. Ihr Mund stand offen und das Papier raschelte leise in ihrer Hand.
„Krieg in der Stadt fordert erstes Todesopfer.“ Mutter und Vater schauten sich an.
„Nach den wochenlangen Unruhen in der Innenstadt und unzähligen Verletzten gibt es nun den ersten Toten zu beklagen.
Wie die Polizei berichtet, wurde der Jugendliche, der offenbar ein Anhänger der “Frettchen“ war, heute früh in der Nähe der inneren Mauer tot aufgefunden. Zeugen zufolge tobte nur ein paar Stunden zuvor eine erbitterte Schlacht zwischen den verfeindeten Gangs, bei dem der gefundene Teenager höchst wahrscheinlich schwer verletzt wurde.
Als die Polizei und der Rettungswagen eintrafen, konnten alle Beteiligten flüchten. Die Ermittler vermuten, dass der Schwerverletzte von Bandenmitgliedern mitgenommen wurde. Offen steht, ob der Jugendliche später selbst wieder auf die Straße ging; oder ob ihn seine Kameraden, als erkenntlich wurde, dass ihm wohl nicht mehr zu helfen sei, ihn seinem Schicksal überlassen haben.
Andere Stimmen behaupten, die gegnerische Gang hätte ihn mit sich genommen, um ihn als sogenanntes Blutopfer zu benutzen.
Oberbürgermeister Waller, der seinen Kuraufenthalt unterbrach, spricht von tiefem Bedauern und einer ungekannten Angst, die nun zwischen den Bürgern umgeht.
Wie jedes Jahr, so Waller, nehme besonders in der kalten Jahreszeit die Aggressionen unter den Jugendlichen, und damit den Banden zu; doch in diesem Winter sei es besonders schlimm, die langanhaltende Kälte und die saisonabhängige Arbeitslosigkeit stürze die jungen Menschen in tiefe Verzweiflung. Langeweile und jahrelange Fehde tun ihr Übriges. Die Medien sprechen bereits von Der großen Depression .“
Die Mutter klappte die Zeitung zusammen.
„War Mark heute Nacht hier?“, fragte der Vater langsam.
„Ja.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja!“ Sie blickte ihn an. „Ich habe ihm heut früh noch einen Tee gekocht.“
Der Vater nickte.
„Was ist denn los?“, fragte Shane.
Der Vater blickte sie an.
Auf seiner Stirn zeichnete sich eine senkrechte Falte ab, die Shane Angst machte. „Iss weiter, Shane.“
„Aber …“
„Iss weiter!“
Die Mutter schaute zur Uhr. Gleich zehn. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, setzte sich auf einen Hocker, stand dann wieder auf und lief ruhelos hin und her. Es schloss an der Tür. Sie drehte sich um.
Mark stellte wie immer seine Schuhe nebeneinander. „Hi.“
Die Mutter atmete tief ein. Mark schaute sie an. „Ist was?“
Die Mutter ging auf ihn zu. „Du hast es gewusst, nicht wahr?“
„Was?“
„Du hast es gewusst! Du hast gewusst, dass das passieren wird!“
„Jetzt hör doch mal auf, mit der Zeitung hier rumzuwedeln, Gertie!“
„Nenn mich nicht Gertie!“
Mark runzelte die Stirn.
Die Mutter schluckte und hielt ihm das Titelblatt entgegen. Mark’s Augen weiteten sich. „Diese Idioten.“
„Wer, Mark? Wer?“
Mark schüttelte den Kopf. Er überflog den Artikel.
Die Mutter packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. „Mark, wen meinst du mit Idioten! Mark, sag mir, was du weißt!“
Der Sohn machte sich los. „Gar nichts. Ich weiß nichts.“
Die Mutter schwieg. „Du hast es gewusst.“, sagte sie schließlich leise. „Du hast dich hier verkrochen, bis es vorbei war. Denkst du, ich bin blöd?“
„Lass mich in Ruhe.“
„Oh nein, das kannst du vergessen! Ich lasse dich nicht
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