Shane - Das erste Jahr (German Edition)
sag ich!“ Dann schien er kurz zu überlegen. „Ich rufe deine Eltern an!“
„Nein!“, rief Shane. „Ich gehe ja schon.“ Sie schaute ihn stirnrunzelnd an und verschwand zur Tür hinaus. Auf der Straße war es leer. Leer und still. Shane lauschte. Das Gefühl von vorhin war verschwunden. Das Gefühl, dass jemand in ihrer Nähe war. Hinter sich hörte sie ein Scheppern. Sie drehte sich um. Der Höllenhund ließ krachend ein dickes Schutzgitter herunter. Shane kniff die Lippen zusammen. „Hans-Jürgen, du elender Feigling!“
Sie saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf das Mandala. Sie wünschte, ihre Gedanken würden sich ebenso finden wie dieses Kreismuster vor ihr.
Shane hielt den Kopf schief. Von unten her hörte sie lautes Gackern. Sie seufzte. Sie hatte Hausarrest. Obwohl sie nur vierzehn Minuten zu spät gekommen war, hatte die Mutter geschrien und gezetert.
Shane blickte in ihre rechte Hand. Der Strich war verschwunden. Schon gestern, als sie nach Hause gelaufen war, war er verblasst, und als sie völlig erschöpft vor der Haustür gestanden hatte, war er fast weg gewesen.
Gott sei Dank. Shane seufzte erneut. Der Tag gestern, die Erlebnisse am Abend in der Stadt hatte all ihre Gedanken aufwirbeln lassen. Die Fäden flogen in ihrem Kopf umher. Shane setzte den Stift aufs Papier. Sie musste nachdenken.
Die alte Frau erhob sich ächzend aus ihrem Sessel. Sie wusste, wann es Zeit war, zu gehen, ihre innere Uhr sagte es ihr. Sie schaute aus dem Fenster. Schwarze Wolken. Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre Hüfte schmerzte beim Gehen. Sie griff nach ihrem Stock.
Der Stift glitt über das Papier und malte den letzten Strich. Shane richtete sich auf. Sie schaute auf das Mandala und klappte schließlich den Block zu. Es war ihr letztes.
Die alte Frau schlurfte gebückt durch das enge Zimmer und ging durch die niedrige Tür in die Garderobe. Sie nahm ihren Mantel und blickte, während sie sich langsam anzog , aus dem kleinen Fenster hinaus, welches sich links neben der Haustür befand.
Hier in der Straße, in der sie wohnte, standen die Häuser gedrängt und geduckt nebeneinander, im Sommer war es unmenschlich heiß und stickig, und im Winter …
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich würden diese Ignoranten ihr heute wieder über den Mund fahren, ihr das Wort verbieten.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie würde sich gar nichts verbieten lassen, sie war eine der ältesten Einwohner, sie liebte diese Stadt. Noch einmal aus dem Fenster. Sie liebte diese Stadt. Sie liebte sie genauso, wie sie sie hasste.
Shane legte den Block beiseite. Sie stand auf, spuckte den Kaugummi in den Papierkorb und wickelte einen neuen aus. Der Kiefer schmerzte kaum noch. Shane schaute aus dem Fenster.
Sie war eine Wand hochgelaufen.
Sie runzelte die Stirn. Eines nach dem anderen, Shane. Wieder setzte sie sich an den Tisch.
Die Dunklen waren die „Frettchen“.
Dann mussten die Weißen die „Jäger“ sein.
Wer war sie?
Die alte Frau betrat das Gebäude. Solange sie zurückdenken konnte, war sie hierhergekommen. Sie stützte sich auf ihren Stock und blickte sich um. Sie war immer hier hergekommen, auch nachdem ihr Kurt gestorben war, ihr lieber Kurt, auch danach war sie immer wieder hier hergekommen, jede Woche. Die alte Frau griff sich an die Hüfte. Dann setzte sie sich in Bewegung.
Shane blickte auf das Stadtmandala.
Waren die Dunklen hinter ihr her gewesen? Warum? Waren die Weißen hinter ihr gewesen? Warum? Vielleicht war alles auch nur ein Zufall. Vielleicht war sie einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen. Schwachsinn, Shane! Niemand läuft an einer Mauer hoch! Hast du das vergessen?
Die Dunklen waren ihr nachgekommen, das hieß, auch sie können die hohen Mauern bezwingen.
Shane dachte an das Gefühl, das sie hatte, als sie über die Dächer gesprungen war. Sie hatte sich leicht gefühlt.
Die alte Frau öffnete die schwere Tür. Die Versammlung hatte schon begonnen. Auch gut, dann würde es ihr leichter gelingen, sich Gehör zu schaffen. Sie trat ein. Stöhrte, der Idiot von einem zweiten Vorstand stand bereits am Pult. Er quittierte ihr Erscheinen mit einem hörbaren Seufzer. Ja, verdreh bloß die Augen, du Würstchen! Die alte Frau lief langsam durch den schmalen Gang, der zwischen den Stühlen hindurch führte. Die Mitglieder der Ü60 blickten sie an.
Shane stand auf und ging ans Fenster. Sie blickte hinaus. Es war bereits dunkel. Sie öffnete
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