Shane - Das erste Jahr (German Edition)
ihr hinterher blickte, wurde ihr etwas klar.
Ihr wurde klar, dass sie sich befreien musste. Sie wusste, dass das, was sie im Inneren festhalten zu versuchte, wachsen würde, und je mehr sie es zurückhalten wolle, es würde größer werden, bis es irgendwann heraus brechen würde.
Shane schaute in den dunklen Himmel. Irgendwann. Nicht mehr lang.
Die Kellnerin des Teehauses schloss schnell die Tür und schüttelte sich. Sie ging zum Tresen und rieb ihre Hände mit Salbe ein. Draußen hörte sie jemanden vorfahren. Sie verdrehte die Augen und warf einen Blick schaute auf die Uhr an der Wand. Es war noch zu früh für Gäste. Seufzend ging sie erneut zur Tür und schloss sie auf. Selbst sie war ein zu guter Mensch, um bei diesem Wetter jemanden draußen stehen zu lassen. „Mark!“
„Hi.“
Die Frau hob die Hände. „Du bist ein Schatz! Warte, ich helfe dir tragen!“
Mark setzte sich und zog die Handschuhe aus.
„Ich hoffe, du hast deinem Lieferanten noch nicht gekündigt. Das hier ist nur die Ausnahme!“
„Ja, ich weiß. Wo soll ich unterschreiben?“
Mark deutete auf das Papier und griff nach der Tasse, die sie ihm gereicht hatte. Er wollte sich erheben.
„Hör zu, Mark …“
Er schaute sie an.
„Ich habe mit Tanja geredet.“
„Hör auf.“
„Nein, sie …“ Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Es geht ihr wirklich schlecht. Ich habe versprochen, mal mit dir …“
„Noch ein einziges Wort, Susi, und du siehst mich hier nie mehr wieder!“ Er blickte sie an.
Sie seufzte und zog ihre Hand zurück. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Dazu kannte sie ihn zu gut.
Mark erhob sich und zog sich wieder an. Ohne ein Wort verließ er das Teehaus.
„Hey! Danke für den Kaffee!“, rief ihm Susi hinterher.
Shane lief die weiße Straße entlang nach Hause. Die Flaschen waren nicht hin und her geflogen, wie sie es erwartet hatte. Wie es bis jetzt immer gewesen war. Es war, als würden sie ihr nun gehorchen. Sie waren nach links und nach rechts gesprungen, genauso, wie Shane es gewünscht hatte. Wie sie es ihnen befohlen hatte. Shane warf die Flaschen in die Mülltonne hinter dem Haus. Die Flaschen hatten ihr gehorcht. Shane schüttelte leicht den Kopf. Es kam ihr merkwürdig vor.
Die alte Frau schloss die Tür hinter sich. Seit langem hatte sie nicht mehr das Bedürfnis verspürt, hinter sich abzuschliessen. Bis heute.
Sie seufzte. Kein Schlüssel würde sie aufhalten. Hedwig drehte sich um und ging mit kleinen Schritten über den Flur. Am Ende schaute sie aus dem Fenster in den Garten. Vereist lag er vor ihr. Vereist und verwildert. Sie hatte sich seit Jahren nicht mehr um ihn gekümmert.
Gegen das Unkraut hatte sie keine Chance, sie konnte sich kaum noch bücken, das Einzige was sie im Sommer ab und an tat, war zu gießen und mit der Harke den Boden zu bearbeiten.
Nächstes Jahr würde sie selbst das wohl kaum mehr schaffen, schon dieses Jahr hatte sie sich mehr auf die Harke gestützt als mit ihr gearbeitet. Die alte Frau seufzte erneut.
Nächstes Jahr …Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. Bald würde sie ihrem lieben Kurt wieder ganz nahe sein. Bald würden sie wieder vereint sein. Ihr lieber guter Kurt.
Hedwig sah in den Garten und ihr Blick wurde zu Eis wie die Kristalle im Fenster. Sie wusste es.
Shane trommelte mit dem Stift auf den Block. Die Lindenbaum tigerte wie immer vor der Tafel hin und her. Shane hatte mindestens schon tausend Mal die Wörter aufgeschrieben, sie tat so, als wäre sie noch immer beschäftigt, nur um keine neue Aufgabe zu bekommen. Sie starrte aus dem Fenster.
Sie hatte einen Plan gehabt. Sie hatte vorgehabt, die Schnepfe in der Bibliothek mit ein paar umherfliegenden Dingen abzulenken und dann den kleinen Gang zu erkunden. Es war ein guter Plan gewesen.
Shane runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, ob es noch immer ein guter Plan war.
Die alte Frau stöhnte. Sie stand jetzt schon gute zehn Minuten vor dem Fenster und schaute in den Garten, und allmählich schmerzte ihre Hüfte. Zum letzten Mal fuhr sie mit den Augen über die vereisten Pflanzen. Sie hatte es immer geliebt zu gärtnern, als sie es noch konnte. Sie hatte jedes Jahr neu gepflanzt, gesät und gejätet. Sie lächelte. Sie konnte sich noch genau an das Jahr erinnern, in dem sich das geändert hatte.
Sie und ihr Kurt hatten draußen gesessen, auf der schmalen Terrasse, sie hatten ihren Kaffee getrunken und ihr Mann hatte in den lang gezogenen Garten geblickt.
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