Shane - Das erste Jahr (German Edition)
das Fenster und griff in den Schnee, der auf ihrem Fensterbrett lag.
Könnte sie doch auch ihren Kopf in das gefrorene Wasser tauchen und ihre Gedanken ordnen.
„Hedwig, wie schön, dass sie auch kommen konnten!“ Ja, ja du verlogener Drecksack.
„Nehmen sie doch noch solange Platz, bis …“
„Ich schlage vor, ich komme gleich zur Sache, Junge!“, sagte die alte Frau und hob ihren Stock über den Kopf, als würde dies ihr eine Erlaubnis zum Reden verschaffen. Der Vorsitzende seufzte wieder. Er schaute sich kurz um. „Nun, dann …“ Er verließ das Pult.
Shane schloss das Fenster, bevor die Kälte sie erstarren ließ. Sie drehte sich um. Bandenkriege. Phh! Depressive Jugendliche! Jugendliche schossen nicht mit Pfeilen auf einander. Jugendliche flogen keine Dächer hinauf und tauchten beinahe lautlos vor einem auf.
Shane ging an ihren Schreibtisch und griff nach ihrem Rucksack. Sie wühlte darin und hielt schließlich etwas in der Hand. Nur dort würde sie Antworten finden. Die Bibliothek.
Die alte Frau stellte sich an das Pult. Sie blickte in die Augen der vor sich Sitzenden. Sie alle kannten sie, und sie kannte sie. Jeden einzelnen kannte sie, sie hätte jeden einzelnen beim Namen aufrufen und sagen können, wo er wohne und wie alt er sei.
„Nun, wie gesagt, ich komme gleich zur Sache.“ Sie räusperte sich.
Sie war es nicht gewohnt, in ein Mikrophon zu sprechen, sie hätte es gern vermieden. Doch nun ließ es sich nicht vermeiden. Nicht mehr.
„Ich bin dafür, dass wir die Polizei nicht weiter wie Ameisen sinnlos durch die Stadt kriechen lassen. Jeder einzelne von euch weiß, was zu tun ist, um …“ Wieder räusperte sie sich. „Um unsere Stadt zu retten. Sofern er das überhaupt möchte.“, setzte sie leise hinzu.
„Hedwig!“
„Nein!“, sagte die alte Frau überraschend scharf. „Jetzt rede ich! Viel zu lange habe ich geschwiegen!“ Sie schaute den Mitgliedern in die Augen, die meisten senkten den Blick. „Seit dem Vorfall kann sich niemand mehr vor der Wahrheit verschließen!“
„Von was redest du da, Hedwig?“, rief einer der Zuhörer. „Ich rede von gestern Nacht!“, blaffte die alte Frau ihn an.
„Und sag nicht, du weißt nicht, wovon ich spreche!“ Sie drohte ihm mit ihrem Stock. „Ich verwette meinen alten faltigen Arsch, dass ihr alle wisst, wovon ich rede!“
Die Zuhörer blickten zu Boden, der zweite Vorstand runzelte die Stirn.
„Es ist geschehen! Seit letzter Nacht können wir sicher sein, dass die Schonfrist vorbei ist! Sieben Jahre hatten wir Ruhe. Vierzehn Jahre hatten wir Ruhe. Doch wir haben uns getäuscht. Es ist nicht vorbei. Es ist niemals vorbei!“
Einer der Alten schaute sie an. „Und was schlägst du vor, was wir tun sollen, Hedwig?“
Die alte Frau hielt inne. „Das, was wir schon lange hätten tun sollen! Den Mund aufmachen!“
Shane fuhr mit den Fingern über den Ausweis. Sie musste einen Weg finden, in den kleinen Gang zu gelangen, der noch tiefer in die Bibliothek hineinführte. Sie blickte aus dem Fenster. Erst am Wochenende durfte sie wieder das Haus verlassen.
Doch bevor sie in die Bibliothek ging, musste sie noch etwas anderes erledigen.
Die alte Frau ging die drei Stufen hinauf und öffnete die Tür. Abgeschlossen hatte sie schon lange nicht mehr. Wer hier hineingelangen wollte, der würde auch hineingelangen. Sie setzte sich ächzend auf den kleinen Schemel in der Garderobe und streift ihre Schuhe ab. Als sie sich aufrichtete, blickte sie in das Gesicht gegenüber. Sie war alt geworden.
Neben dem Spiegel hing ein Bild ihres lieben Mannes. „Ach, Kurt!“ Sie blickte ihm in die Augen, in seine lieben guten Augen. Dann runzelte sie die Stirn.
An der Tür klopfte es.
„Ja?“
Die Mutter trat ein. Sie schaute sich kurz um und legte dann einen Block auf den Tisch. Shane blickte die Mutter an. „Neue Mandalas.“, sagte sie.
„Ja.“ Die Mutter strich ihr über den Kopf. „Ich habe gesehen, dass du keine mehr hast.“
„Danke, Mama.“
Nachdem die alte Frau ihren türkischen Kaffee getrunken hatte, warf sie einen letzten Blick auf das Bild ihres guten Mannes.
Dann stand sie entschlossen auf, zog sich wieder an und nahm ihren Stock.
Die alte Frau tat etwas, was sie seit dreiundvierzig Jahren nicht mehr getan hatte. Sie hielt Wache.
„Wie, ihr habt keinen Kaffee mehr?“
Die Bedienung zuckte mit den Schultern. „Der Lieferant hat sich seit Tagen nicht mehr blicken
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