Shane - Das erste Jahr (German Edition)
gespürt, dass es ein schlechter Zeitpunkt war für einen Ausflug in die Stadt. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Sie hätte sie gespürt, sie hätte ihre Anwesenheit gespürt.
Sie hätte den Aufmarsch gespürt.
Shane wanderte durch den äußeren Ring und überlegte, ob sie tatsächlich den Verstand verlor. Sie konnte nicht mehr einschätzen, wer gut und böse, wer normal oder gestört war. Wie auch? Sie war umgeben von Freaks. Jugendliche, die Pfeile schossen, Jugendliche, die über Dächer flogen; sie hatte jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren. Doch diese Welt war ebenfalls wirklich.
Ihre Welt.
Shane verzog das Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie blieb stehen und schaute sich um.
Shane brauchte einige Zeit, um zu herauszufinden, wo sie war. Sie war immer tiefer in die Stadt hineingegangen, und spätestens ab dem letzten Gedanken an Rambo war sie nicht mehr allein gewesen.
Sie schaute sich suchend um. Dann tauchte das Mandala vor ihren Augen auf, und zwar klar und deutlich. Und nun spürte sie ihre Anwesenheit hinter sich, vermutlich waren sie schon eine ganze Weile hinter ihr her gewesen. Verdammt, Shane, du wolltest doch vorsichtig sein!
Der Himmel war noch vor einigen Minuten einigermaßen hell gewesen, doch nun verdunkelte er sich so schnell, dass sie beinahe dabei zusehen konnte. Shane überlegte fieberhaft. Sie musste in die nächste Gasse einbiegen, um in den äußeren Ring zurückzukommen. Sie wusste nicht, was das für eine Gasse war, sie war noch nie dort gewesen, doch es war der einzige Ausweg.
Sie ging etwas schneller. Als sie nach rechts abbog, spürte sie sie bereits so nah hinter sich, dass sie sich fast sicher war, sich umdrehen und dann direkt in ihre Augen blicken zu können.
Sie rannte los.
Die Gasse war eng, noch enger, als Shane es vermutet hatte. Kleine Häuser standen gedrängt aneinander. Shane rannte schneller und die hinter ihr ebenfalls. Ihr Puls raste, sie wusste, dass es weit mehr waren als das letzte Mal. Die letzten Male.
Sie zwang sich, nicht zurückzublicken, sie war sich sicher, diese Übermacht nicht aufhalten zu können, und wenn doch, dann würde es sie auseinanderreißen.
Sie war noch nicht so weit. Hinter sich spürte sie sie näher kommen, sie hörte das Rauschen, welches lauter und lauter wurde. Als die ersten Pfeile kamen, zog Shane den Kopf ein.
Das Rauschen wurde lauter, das Zischen der Pfeile kam näher, und Shane hatte das Gefühl, ihre Füße würden sie kaum noch tragen, niemals würde sie es schaffen, zu entkommen.
Dunkle, eisige Mauern zogen an ihr vorüber, Mauern, in denen kaum ein Fenster erleuchtet war.
Shane hörte sie näher kommen. Sie atmete schneller, ihr Herz raste, sie konnte kaum genug Luft einsaugen, sie schnappte wie eine Ertrinkende nach Sauerstoff, und die Luft, die sie einatmete, legte sich augenblicklich wie ein Streifen aus messerscharfem Eis über ihre Kehle.
Hedwig drehte sich um und griff nach ihrem Stock. Als sie zur Türe hinaustreten wollte, hörte sie es. Etwas, dass sie einer ewigen Zeit nicht mehr gehört hatte, etwas, was weit weg schien wie in einem anderen Leben. Doch nun war es da, wieder, sie hörte es, und sie konnte es in der Luft riechen.
Die alte Frau wusste, nun musste sie schnell sein, sie brauchte den Kopf nicht zu recken, sie brauchte nicht auf die Straße zu schauen, sie wusste, was sie dort sehen würde; so nahm sie nur ihren Stock in die Hand, umklammerte ihn fest mit ihren knöchernen Fingern, sie hielt ihn fest und streckte ihn nach vorn, hielt ihn aus der Tür hinaus.
Shane rannte. Sie versuchte ruhig zu bleiben, sagte sich Rotbein’s Sätze immer wieder in Gedanken auf, „Ruhig bleiben, Shane, immer ruhig bleiben!“.
Sie drehte den Kopf und riss die Augen auf. Ein riesiger Pulk aus weißen Gestalten verfolgte sie. Dreh dich um, Shane! Dreh dich um und lauf!
Lauf!
Sie drehte den Kopf zurück, nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, sie blieb mit dem Fuß an etwas hängen und fiel der Länge nach auf den schwarzen Boden.
Die alte Frau hatte schon oft Wache gehalten, jahrelang, immer an der Seite ihres lieben guten Kurts, es war ihr zur Routine geworden mit den Jahren, doch so etwas wie heute hatte sie noch nie an Land gezogen.
Hedwig bückte sich, ein Schmerz fuhr durch ihre alte Hüfte, sie scherte sich nicht darum, ließ den Stock fallen und zog das, was sie an Land gezogen hatte, zu ihrer Tür hinein.
Shane griff sich an den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher