Shanghai Love Story
essen mit uns?«, fragte Chenxi. Anna nahm ihre Tasche und folgte ihnen die Treppe hinunter.
»Warum sind keine Mädchen in deiner Klasse, Chenxi?«, fragte sie.
»Chinesische Mädchen lernen Nähen oder Modedesign«, erklärte er. »Traditionelle chinesische Malerei ist für Männer.«
Anna wäre nie in den Sinn gekommen, dass chinesische Malerei als männliche Tätigkeit gelten könnte. In ihrer Schule betrachtete man es als weibliche Angelegenheit und schaute gewöhnlich darauf herab. Na toll, dachte Anna. Sicher sind Chenxi die zierlichen und gesitteten Chinesinnen lieber. Sie schaute nach unten auf ihre klobigen Ledersandalen und versuchte, sich ihre FüÃe in den anmutigen Lacksandalen mit den endlos hohen Absätzen vorzustellen, die die Frauen hier trugen. Der Gedanke lieà sie kichern.
Sie fragte sich, ob Chenxi ihren üppigen, typisch westlichen Körper und ihre jungenhafte Kleidung unattraktiv fand. Es war ihr immer leicht gefallen, die Aufmerksamkeit von Jungen zu erregen. In Melbourne mochte man Frauen mit groÃen Brüsten und runden Hüften, und sie kleidete sich wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter. Aber vielleicht fand Chenxi sie zu fremd, um sich zu ihr hingezogen zu fühlen. Sie dagegen liebte gerade das Fremde, das ihn umgab, aber womöglich war sie für seinen Geschmack zu exotisch.
Sie erreichten den Fuà der Treppe und traten hinaus ins Freie. »Wo ist dein Fahrrad?«, wollte Chenxi wissen.
»Ich bin mit dem Taxi gekommen«, sagte sie errötend. Ihr war klar, dass er sie für eine reiche Ausländerin hielt, und sie hatte keine Lust, buchstäblich mit den Geldscheinen vor seiner Nase herumzuwedeln. »Du solltest mich doch abholen!«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. Sie hatte mit ihm streiten wollen â schon zweimal hatte er sie im Stich gelassen â, aber das Durcheinander an diesem Vormittag hatte ihr keine Gelegenheit dazu gegeben, und irgendwie fühlte sie sich betrogen.
Sie gingen auf den zerbeulten Fahrradständer zu. Chenxi zerrte ein Rad aus dem verrosteten Gestänge. »Ich dir gestern Weg zeigen«, erklärte er.
»Aber nicht mit dem Rad. Bloà mit dem Taxi. Wie soll ich mir das bloà merken?«
Lao Li war schon vorausgefahren und drehte jetzt mit seinem Fahrrad Kreise, während er auf sie wartete. Chenxi zuckte mit den Schultern, schwang ein Bein über den Sattel und klopfte dann auf den Gepäckträger. Anna zögerte und kletterte dann unbeholfen auf das Hinterteil des Fahrrads. Sie wusste nicht genau, ob sie sich damenhaft mit beiden Beinen auf einer Seite hinsetzen sollte, wie es die chinesischen Mädchen taten, aber dann dachte sie, dass sie sich sicherer fühlen würde, wenn sie ihre Beine rechts und links des Hinterrads lang machen konnte. Und so setzte sie sich rittlings hinter Chenxi.
Chenxi drehte sich zu ihr um. »Ich bringe dich heute nach Hause, dann du kennen Weg. Morgen du kommen allein zu Akademie, okay?«
Anna schaute ihn an. »Wirst du nicht dafür bezahlt, dass du auf mich aufpasst?«
»Wie alt bist du?«, fragte Chenxi.
»Achtzehn«, erwiderte Anna, geschmeichelt von seinem Interesse.
»Dann du bist alt genug, um allein in Schule zu gehen!« Mit ganzer Kraft trat er in die Pedale, und schwankend setzten sie sich in Bewegung und fuhren Lao Li hinterher.
Kapitel 6
Das Nudelrestaurant war völlig überfüllt. Die Leute standen auf der StraÃe, beugten sich über ihre Schüsseln und schlürften die Suppe oder warteten auf einen freien Platz.
An einem Klapptisch am Eingang des kleinen Restaurants bearbeitete ein junger Mongole mit lockigen Haaren den Teig. Seine wettergegerbten Wangen waren mit Mehl befleckt. Er klatschte auf den Teig, faltete ihn und zog ihn in armlange Streifen, wieder und wieder, bis die Streifen so dünn waren wie Spaghetti. Dann drehte er eine Länge davon ab und lieà sie in die kochende Suppe fallen. Er schaute erst auf, als die Ausländerin auf dem Gepäckträger eines Fahrrads auftauchte, das von einem Chinesen gefahren wurde. Er war nicht der Einzige. Alle gafften.
Chenxi tat so, als würde er es nicht bemerken. Er und Lao Li stellten die Fahrräder ab und schlenderten in das Restaurant. Anna strich ihre Shorts glatt und folgte ihnen.
Der alte Mann, der die Schüsseln mit der dampfenden Nudelsuppe servierte, stieà einen Jungen von seinem
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