Shanghai Love Story
und unverständlich redete. An ihrem Zeigefinger hing eine Waage aus Messing und Leder. Anna schüttelte den Kopf, aber die Frau rannte hin und her, lud mehr und mehr Früchte auf die Waagschalen. Anna schüttelte unentwegt den Kopf und lächelte. Die Frau verstand ihre Körpersprache falsch und hielt das Ganze für irgendein kompliziertes Ritual zum Feilschen. Irgendwann gab sie mit einem frustrierten Ruf auf.
Bauern dösten auf Wagenladungen Wassermelonen oder Kohl oder kauerten neben Webmatten, auf denen ein paar zerdrückte Tomaten lagen. Schulkinder mit roten Schals um ihren Hälsen kauten auf Zuckerrohrstangen. Wenn sie den Saft ausgesaugt hatten, spuckten sie den hölzernen Brei aus. Ein junger Mann neben einem Karren kratzte die knorrige, dunkelrote Haut mit einem riesigen Beil von dem Zuckerrohr und reichte den Kindern die schimmernd weiÃen Stangen. Der Saft tropfte ihnen über das Kinn. Anna war heià und sie war durstig, aber sie hatte nicht den Mut, im Angesicht der Menge mit Händen und FüÃen um eine Zuckerrohrstange zu bitten. Schon schauten die Kinder zu ihr hoch, stieÃen sich gegenseitig an und riefen: » Wai guo ren! Wai guo ren! Ausländerin! Ausländerin!«
Sie drehte sich um und stolperte über den Fischmarkt.
In Plastiktanks zuckten und wanden sich die Fische oder trieben schlaff im Wasser. Eine kleine Gruppe hatte sich um eine Hausfrau versammelt, die um eine Schildkröte feilschte. Die Beine der Schildkröte waren mit Bast zusammengebunden, und sie hing kopfüber von der Faust des Händlers, gemeinsam mit der hier üblichen Fingerwaage. Der spitze Kopf schob sich in den Falten des Nackens beständig vor und zurück, wie der Penis eines kleinen Jungen.
Als sie zu einer Wanne voller Aale kam, blieb Anna stehen, angewidert und fasziniert zugleich. Der Händler nahm die Tiere aus dem Wasser, während sie mit ihren langen Körpern wild um sich schlugen, drückte ihre Köpfe auf einen Nagel in einem Holzbrett, schlitzte sie auf und schälte die Innereien heraus.
Die StraÃe wurde dunkler und feuchter. Fleischbrocken lagen tropfend auf Steintischen. Kadaver mit Knochen, die wie Perlmutt schimmerten, hingen an Haken. Alte Frauen hockten darunter, schaufelten sich Reis aus Zinnschalen in ihre Münder und verscheuchten die Fliegen von dem geronnenen Blut.
Die Hitze wurde mit einem Mal zu viel für Anna, ihr wurde schwindelig. Sie schlurfte vorwärts, immer bemüht, ihre Augen nicht nach rechts und links wandern zu lassen, aber sie wurden dennoch wie magisch von den blutigen Auslagen angezogen. Sie musste daran denken, wie sie einmal in Australien mit ihrer Familie in einem Stau gesteckt hatte. Es war heià im Auto gewesen, und sie hatten sich schrittweise den blinkenden Warnleuchten an der Unfallstelle genähert. Sie hatte sich gezwungen, nicht zu gaffen, wie es die anderen Vorbeifahrenden in der Sicherheit ihrer eigenen Autos getan hatten. Sie sagte sich, dass sie diese Art von perversem Voyeurismus ablehnte. Aber im letzten Moment, gerade, als ihr Vater Gas gab, um das verbeulte Metall und das zersplitterte Glas hinter sich zu lassen, zuckten ihre Augen zur Seite, als ob sie über einen eigenen Willen verfügten. Die gesamte Szene hatte sich in ihr Gehirn gebrannt, das Schwarz, das Blau und das Rot.
Der einzige Gedanke, der sie davon abhielt, hier auf dem Markt in Ohnmacht zu fallen, war die Vorstellung, inmitten des ganzen Drecks und des Bluts aufzuwachen.
Als sie endlich die Akademie erreichte, erkannte Anna erleichtert, dass die anderen Studenten noch nicht vom Mittagessen zurück waren. Es war jetzt halb eins. Sie hatte vergessen zu fragen, wann die Nachmittagskurse begannen. Im Inneren des Gebäudes war es kühler. Warum war es bloà so heiÃ, wenn doch gar keine Sonne zu sehen war? Seit sie angekommen war, herrschte eine drückend schwüle Hitze, aber die Sonne hatte die grauen Wolken noch kein einziges Mal durchbrochen. Und dabei war es erst Frühling! Anna stellte sich vor, wie Shanghai von oben betrachtet aussehen musste â wie es wie in einem Dampfkochtopf unter dem Deckel aus verpesteter Luft vor sich hin brodelte.
Sie schleppte sich die Treppe hoch, wobei ihre Schritte in dem leeren Treppenhaus widerhallten, und betete, dass niemand in der Klasse war, damit sie den Kopf auf den Tisch legen und sich ausruhen konnte. Ihr war schlecht. Vielleicht sollte sie mit dem
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