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Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Rippin
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Stuhl und bedeutete Anna gestikulierend, sich zu setzen. Anna schaute zu den Wänden, an denen das Fett und die Kadaver von Insekten klebten, auf die schmutzigen Tische und die durchweichten Essstäbchen in den Körben. Rechts von ihr räusperte sich ein Mann und spuckte dann auf den Boden. Ihr Vater wäre entsetzt gewesen. Sie ärgerte sich, dass Chenxi von ihr erwartete, in einer solchen Spelunke etwas zu essen, aber sie hatte keine Lust, sich seine spitzen Bemerkungen anzuhören, wenn sie von ihm verlangte, zum Hilton gebracht zu werden.
    Â»Du wollen dich setzen?«, fragte Chenxi und deutete auf den Stuhl.
    Â»Ã„hm, nein, ich habe eigentlich keinen Hunger«, sagte Anna. »Ich denke, ich laufe zur Akademie zurück.« Chenxi zuckte mit den Schultern und setzte sich auf den Stuhl.
    Anna schob sich aus dem Restaurant und machte sich in die Richtung auf, aus der sie gekommen waren. Sie hatte versucht, sich den Weg zu merken, aber manchmal war es ihr schwer gefallen, nicht die Augen zu schließen und das Glück zu genießen, ihm nahe zu sein – auf dem Gepäckträger von Chenxis Fahrrad mit ihren Armen um seine Taille. Warum bloß konnte sie ihm nie lange böse sein?
    Während Anna in die Richtung lief, in der sie hoffte, die Akademie vorzufinden, roch sie die ranzige Ausdünstung des Suzhou, des Flusses, der hinter der Marktstraße entlangfloss. Chenxi hatte ihn wohl auf dem Weg zum Restaurant überquert. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater ihr und ihren Schwestern schon in Melbourne von diesem unglaublich langen Fluss erzählt hatte, noch ehe er ihn selbst gesehen hatte. Der Fluss, auf dem Menschen in Hausbooten lebten, in dem sie fischten und ihr Gemüse wuschen, war so verschmutzt, dass er zweimal im Jahr anfing zu kochen, wegen der Methangase, die unter der Oberfläche gärten.
    Ihr Vater hatte bei der australischen Firma gearbeitet, die einen Außenposten in Shanghai betrieb und versucht hatte, den Fluss zu reinigen. Aber nachdem die Arbeiten durch die undurchschaubare chinesische Bürokratie drei Jahre lang verzögert worden waren, hatte man aufgegeben. Alle waren nach Hause gegangen. Nur Annas Vater war geblieben, unter dem Vorwand, dass er keinen Job unerledigt ließ.
    Als Anna ihren Vater vor zwei Jahren das erste Mal besucht hatte, war sie mit ihm und ihren beiden jüngeren Schwestern über den Fluss gefahren. Während das Taxi über die Brücke kroch und Mr White seinen gleichgültigen Töchtern stolz einen Vortrag hielt, hatten sie die Fenster hochgekurbelt, um den Gestank nicht in den Wagen zu lassen. Anna und ihre Schwestern hatten angeekelt in die regenbogenfarben schimmernde Brühe hinuntergeblickt, wo Fische mit den Bäuchen nach oben trieben und Ratten in dem Unrat am Ufer wühlten.
    Annas Mutter behauptete immer, dass der Job in Shanghai ihrem Vater eine willkommene Ausrede bot, um seiner Familie den Rücken zu kehren. Zu Hause müsste er sich mit all den Problemen auseinandersetzen, die er dort zurückgelassen hatte. Als ihr Vater den Posten in China angenommen hatte, war Annas Mutter willig in die Rolle der Märtyrerin geschlüpft und in Melbourne geblieben, damit die Schwestern ihre Schulausbildung beenden konnten. Anna wusste, dass es nicht leicht war, sich von ihrer Mutter zu trennen, einer Frau, die unentwegt seufzte und sich an manchen Nachmittagen hinter geschlossenen Vorhängen ins Bett legte. Wenn ihr Vater ehrlich gewesen wäre, hätte er nicht den Job als Vorwand gebraucht. Auch Anna fand es schwer, sich aus der Umklammerung ihrer Mutter zu lösen, und sei es nur, um vier Wochen lang zu ihrem Vater zu fahren.
    Sie wusste ebenfalls, dass ihr Vater ihr zwar sehr überzeugend vorspielte, wie sehr er sich freute, seine älteste Tochter bei sich zu haben, dass sie aber für ihn eine tägliche Mahnung an all das war, was er zurückgelassen hatte – den unerledigten Job: seine Familie. Und wie er selbst sagte: Er hasste nichts mehr als einen Job, der nicht erledigt wurde.
    Anna erreichte den Eingang zu dem belebten Markt. Der Gestank des Flusses vermischte sich mit dem Geruch nach lebenden Tieren und Dung. Sie kam an einem dunkelhäutigen Bauernmädchen vorbei, das auf einer ausgefransten Matte Persimonen anbot, und schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. Die junge Frau sprang auf, packte eine Handvoll Früchte und trottete hinter Anna her, wobei sie laut

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